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US-Vizepräsident Biden (li.) ließ kein gutes Haar an der ukrainischen Regierung. Präsident Poroschenko (re.) hingegen verspürt Rückenwind.

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Die grassierende Korruption und die Armut in der Ukraine verhindern eine Lösung des Konflikts, sagt August Pradetto.

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Premier Jazenjuk (re.) wird bei einem Raufhandel im Parlament bedrängt.

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Die Ukraine geht mit großen Zerstörungen in das neue Jahr.

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STANDARD: Der Konflikt in der Ostukraine ist angesichts von Flüchtlingskrise, Terrorgefahr und Syrien-Krieg in den vergangenen Monaten in den Hintergrund getreten. Wem nützt das?

Pradetto: US-Vizepräsident Joe Biden hat sich vor wenigen Tagen nach Kiew begeben und eine erstaunliche Rede gehalten, in der er in dieser Form zum ersten Mal den mangelnden Reformeifer und die grassierende Korruption der ukrainischen Regierung scharf kritisierte. Nun hat man auch in Washington erkannt, dass sich aufgrund der inneren Probleme sozialer und wirtschaftlicher Art in der Ukraine die Konfliktlage gar nicht verbessern kann. Die vergleichsweise Beruhigung des Konflikts in der Ostukraine wurde innenpolitisch eher in die falsche Richtung genutzt, nämlich indem man an den oligarchischen Strukturen und der Korruption lieber nicht zu viel ändert und den nationalistischen Kräften nicht entschlossen genug entgegentritt. Wären international nicht die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, der Terror in Paris und Syrien im Fokus gestanden, wären die westlichen Reaktionen auf Negativentwicklungen in der Ukraine eventuell heftiger ausgefallen.

STANDARD: Zehn Monate sind seit dem Abkommen Minsk II vergangen, jüngst zeichnete sich tatsächlich eine relative Beruhigung der Kampfhandlungen ab. Droht der Krieg nun zu einer Art "Frozen Conflict" zu werden?

Pradetto: Das ist absehbar. Keine Seite will von ihren grundsätzlichen Positionen abrücken, gleichzeitig hat aber auch niemand Interesse an einer militärischen Eskalation. Moskau wird seine Unterstützung für die Separatisten nicht beenden, aber offenkundig auch keine Ausweitung des Konflikts forcieren. So wird der jetzt existierende Status quo stabilisiert. Die Separatisten sind sowieso von Russland abhängig, nicht nur militärisch, sondern auch in der administrativen und polizeilichen Ordnung in diesen Gebieten. Kiew hat zumindest vorerst den Versuch aufgegeben, den Konflikt militärisch lösen zu wollen, nachdem alle drei bisherigen Anläufe gescheitert sind und von außen keine ausreichende Unterstützung mehr dafür angeboten wird. Die EU will eine Beruhigung, weil man eine Lose-lose-Situation für alle Seiten befürchtet, sollte der Konflikt doch ausgeweitet werden. Die Ukraine ist schließlich nicht nur von russischem Goodwill in puncto Gas abhängig, sondern auch von den Milliarden aus der EU, dem IWF und der Weltbank, ohne die das Land zusammenbrechen würde.

STANDARD: Russlands Präsident Wladimir Putin verkündete vergangene Woche auf einer Pressekonferenz, dass in der Vergangenheit sehr wohl russische Militärangehörige in der Ukraine tätig waren. Hat Sie das überrascht?

Pradetto: Eine solche Stellungnahme soll das neue Selbstbewusstsein Moskaus demonstrieren. Man will damit zeigen, dass nicht nur die USA, die schon im Frühling 2014 der damals neuen ukrainischen Regierung Militärberater geschickt haben, dazu fähig sind, sondern auch Russland. Zum Zweiten muss Moskau jetzt nicht mehr mit einer internationalen Verurteilung deshalb rechnen.

STANDARD: Die von Russland annektierte Halbinsel Krim erlebte nach Anschlägen auf Strommasten durch ukrainische Nationalisten Ende November einen Blackout. Gehen die ukrainischen Behörden energisch genug gegen Extremisten vor?

Pradetto: Dass sich Regierungschef Arseni Jazenjuk nach der Sprengung offen geweigert hat, Leute zum Reparieren dorthin zu schicken, ist geradezu unglaublich und ein Bruch der Vereinbarung mit Moskau. Es gibt in der politischen Klasse, etwa im Kiewer Parlament, eine ganze Reihe von Menschen, die solche Aktionen unterstützen. Und es gibt innerhalb der Regierung eine Auseinandersetzung darüber, wie mit solchen Taten umgegangen werden soll. Präsident Petro Poroschenko ist ganz offensichtlich nicht stark genug, um Kräfte wie Jazenjuk von neuer Eskalation gegenüber Moskau abzuhalten. Dessen Umgang mit dem Stromausfall auf der Krim war ja im Grunde genommen kontraproduktiv für das Bestreben Kiews und Washingtons, nicht nur formal, sondern auch materiell den Anspruch aufrechtzuerhalten, dass die Halbinsel weiterhin ukrainisches Gebiet ist. Erst vor einer Woche ist Putin persönlich zur Eröffnung der neuen Stromleitung von Russland auf die Krim gekommen, die Unabhängigkeit von ukrainischem Strom bringen soll.

STANDARD: Zuletzt traten die Flügelkämpfe in der prowestlichen ukrainischen Regierung immer offener zutage. Wer wird sich durchsetzen?

Pradetto: Ich war im September während einer Studienreise im Rahmen eines Konfliktpräventionsprogramms des deutschen Auswärtigen Amts in Odessa, wo der georgische Ex-Präsident Micheil Saakaschwili seit Frühling Gouverneur ist und mittlerweile offen heftige Kritik an der Jazenjuk-Regierung übt. Es tobt ein offener Machtkampf zwischen unterschiedlichen politischen Kräften über die zukünftige Ausrichtung, den man vereinfacht als Auseinandersetzung zwischen Nationalisten und Pragmatikern charakterisieren kann. Spätestens seit der Kritik Bidens an seiner Regierung scheint Jazenjuk nicht mehr auf einem sicheren Ast zu sitzen. In Washington ist gegenüber der Ukraine offenbar eine Reorientierung im Gang. Die mindestens inoffiziell vom Kreis um Saakaschwili zum Ausdruck gebrachte Position etwa ist, dass jeder Dollar, der in den Krieg investiert wird, verlorenes Geld ist, das man besser woanders brauchen könnte.

STANDARD: Wie geht es 2016 in der Ukraine weiter?

Pradetto: Die Mehrheit der Menschen in der Ukraine will von dem Krieg eigentlich nichts mehr wissen und ist der Auffassung, dass der größere Teil der Bewohner der Krim, aber auch der Gebiete um Donezk und Luhansk, die ohnehin nur wenige Prozent des ukrainischen Territoriums im Südosten umfassen, nicht mehr bei der Ukraine bleiben wollen. Mindestens 80 Prozent der Leute, in Odessa vermutlich noch mehr, halten die sozialen und ökonomischen Probleme des Landes für weit dringlicher. Je weniger Fortschritt die Wirtschaft im kommenden Jahr macht, desto weniger Unterstützung werden die Nationalisten bekommen. In Umfragen heißen mittlerweile nur mehr zwei Prozent der Befragten die Amtsführung Jazenjuks gut, bei den Parlamentswahlen vor etwas mehr als einem Jahr erhielt seine Partei noch die meisten Stimmen. Heute sind die Pragmatiker auch aufgrund des Einflusses der ausländischen Geldgeber in der stärkeren Position. Ob das genügt, um die wirtschaftliche und soziale Krise in den Griff zu bekommen und einen neuerlichen Maidan zu verhindern, ist allerdings keineswegs klar. (Florian Niederndorfer, 27.12.2015)