Flüchtlingskind auf dem Festivalgelände in Wiesen: "Sie hatte verstanden, als der Onkel sagte: Sie muss sehen, dass sie über den Winter kommt."

APA / Robert Jaeger

Sie ging so schnell, wie sie konnte. Darum fror sie bald nicht mehr. Irgendwann war niemand mehr zu sehen.

APA / Robert Jaeger

Dieser Mann war ihr Onkel. Sie wusste nicht, was das Wort bedeutet. Sie war sechs Jahre alt. Er beugte sich zu ihr nieder und erklärte ihr ein letztes Mal, was nun folgen wird. Wieder hatte sie Mühe, ihn zu verstehen. Aber sie verstand ihn. Das eine oder andere sollte sie ihm nachsagen. Das tat sie. Er gab ihr einen Schubs, als die Ampel grün war, und sie ging über den Zebrastreifen zum Markt. Sie blickte sich nicht um. Er hatte gesagt, das dürfe sie nicht, sie solle schnell gehen. Sie ging schnell und schaute auf den Boden und hatte die Hände in den Taschen.

In der Gasse zwischen den Marktständen drückte sie sich an den Männern vorbei, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Den Kopf behielt sie gesenkt. Die Männer richteten ihre Stände her, fegten, legten das Gemüse zurecht und das Obst, sie wichen ihr aus oder blieben stehen, um sie vorbeizulassen. Und es wunderte sich keiner über sie. Genau so würde es geschehen, hatte der Onkel gesagt.

Es war früh am Morgen. Die Laternen brannten noch. Die Pfützen waren gefroren. Sie hatte seit gestern Mittag nichts gegessen. Sie werde von Bogdan zu essen bekommen. Bogdan sei ein guter Mann. Auch wenn er mit ihr schimpfe, sei er doch ein guter Mann. Erst werde er vielleicht mit ihr schimpfen, bald aber nicht mehr, und er werde nicht sehr mit ihr schimpfen. Sie solle nicht sagen, dass sie Hunger habe. Sie solle gar nichts sagen. Er werde ihr zu essen geben, und es werde besser sein als alles, was sie in ihrem Leben gegessen habe.

Eine Tafel Schokolade

Im Laden stellte sie sich vor die Theke und verschränkte die Hände auf dem Rücken und sagte nichts. Sie schaute den Mann an, der hinter der Theke stand. Der Mann hinter der Theke ist Bogdan, hatte der Onkel gesagt.

Bogdan fragte, was sie wünsche. Sie antwortete nicht. Ob sie jemand geschickt habe, wer sie geschickt habe, ob sie jemanden suche, ob sie auf jemanden warte. Wie sie heiße. Wie er ihr helfen könne. Sie gab keine Antwort. Er ließ sie.

Er holte Würste, Schinken, Käse und die Tiegel mit in Öl eingelegten Oliven, Artischocken, Zucchini und Melanzani aus dem Kühlraum und breitete die Sachen unter dem Glas der Theke aus.

Sie tat, was der Onkel gesagt hatte. Nichts. Sie stand nur da. Bogdan schnitt Brot ab, belegte es mit Wurst und Käse, teilte es in Viertel. Er hob sie hoch und setzte sie auf einen der Barhocker an der Theke. Er schob den Teller vor sie hin, goss gelben Saft in ein Glas.

Der Onkel hatte gesagt, sie solle gierig essen. Sie aß, wie sie immer aß. Der Durst war größer als der Hunger. Bogdan schenkte nach. Er fragte nicht mehr. Als sie gegessen und getrunken hatte, nahm er eine Tafel Schokolade aus einer Schublade und gab sie ihr. Er sagte: Jetzt musst du gehen. Sie sah ihn an und schwieg. Es fiel ihr leicht, ihn anzusehen und zu schweigen. Sie fürchtete sich nicht vor dem Mann.

Du musst jetzt gehen, sagte er noch einmal. Du kannst morgen wieder kommen. Aber jetzt musst du gehen. Er stellte sie auf den Boden. Sie trat zwei Schritte zurück in die Ecke neben den Schirmständer, verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah ihn weiter an. Schau du nur, sagte er. Es nützt nichts, du musst gehen. Also geh!

Sie sagte nichts. Du stehst im Weg, sagte er. Wenn die erste Kundschaft kommt, musst du weg sein. Verstehst du, was ich sage? Verstehst du meine Sprache? Hast du keine Handschuhe?

Sie rührte sich nicht. Aber jetzt sah sie ihn auch nicht mehr an. Bogdan kümmerte sich nicht mehr um sie. Wenn er ein Stück Wurst abschnitt, weil er auf diese Art frühstückte, reichte er ihr auch ein Stück hinüber. Oder eine Essiggurke. Er goss Tee auf und stellte zwei Tassen auf den Tresen. Und schließlich setzte er sie wieder auf den Barhocker.

Der erste Kunde war der Besitzer des Fischgeschäfts oberhalb von Bogdans Laden. Er hatte rote Hände, verfroren vom Eisschöpfen. Er fragte, wer das Kind sei. Ob Bogdans. Das war nicht ernst gemeint. Sie ist mir zugelaufen, sagte Bogdan.

Der Mann bekam seinen Kaffee mit Milch über den Tresen, dazu einen Teller mit Brot, Wurst, Käse und Humus. Erst als er ausgetrunken und fertig gegessen hatte, fragte er: Wie meinst du das? Und fragte das Kind: Wer bist du? Wie heißt du? Sie redet nicht, sagte Bogdan. Sie wird gleich abgeholt. Sicher wird sie gleich abgeholt. Was heißt zugelaufen?, fragte der Mann. Ich denke, jemand hat sie bei mir untergestellt, sagte Bogdan. Vielleicht ihr Vater, oder vielleicht hat sie einen älteren Bruder. Weil es draußen kalt ist und sie im Weg ist, was weiß ich. Er muss etwas erledigen und weiß nicht, was er mit ihr anfangen soll. Ist eine gute Idee, finde ich. Hoffentlich spricht es sich nicht herum. Ich habe kein Talent, einen Kindergarten zu führen. Aber sie ist lieb, findest du nicht? Schau sie an! Der Mann kaute und schaute sie an. Er hielt ihr das Brot mit dem Humus vor den Mund. Sie war satt.

Was machst du, wenn sie niemand abholt?, fragte er. Das überlege ich mir am Abend, sagte Bogdan. Schick sie zu mir herüber. Zum Mittagessen, sagte der andere. Bei mir kriegt sie auch etwas. Das werde ich tun, sagte Bogdan. Dann sagte der Mann noch einiges, und schließlich sagte er: Du musst die Polizei holen.

Da schrie das Kind.

Manche lächelten sie an

Das hatte ihr der Onkel eingeschärft. Sie soll genau auf die Worte achten. Wenn ein Wort fällt, das wie Polizei klingt, soll sie schreien. Er ließ sie das Wort oft und oft wiederholen. Er sprach es ihr vor. Er kleidete es in verschiedene Sätze. Er sagte es wie nebenbei. Er sagte es überdeutlich. Er sprach es verwischt aus. Bis sie verstanden hatte. Sie soll so lange schreien, wie die Luft reicht, und dann noch einmal so lange und dann nicht mehr. Sie hatte nicht gefragt, was geschehen wird.

Es geschah nichts. Aber der Mann verließ schnell Bogdans Laden. Bogdan nahm sie auf den Arm. Er lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück. Sie betrachtete ihn aufmerksam. Ihre Hände waren kalt. Er trug sie nach hinten, wo der elektrische Heizkörper stand. Er setzte sie auf einen Sessel, legte ihr seinen Parka um, wickelte ihre Hände und ihre Füße in das Innenfutter, zog ihr die Kapuze über die Haare.

Eine Frau betrat den Laden, sie hatte eine Fellmütze auf dem Kopf und zog einen Einkaufswagen. Sie bemerkte das Kind nicht. Sie wollte einen speziellen Käse, dessen Name ihr nicht einfiel, sie zeigte auf ihn. Auch die nächsten Kundschaften bemerkten das Kind nicht. Irgendwann begann es zu singen. Bogdans Geschäft war gerade voll mit Menschen, es war zur Mittagszeit. Manche lächelten sie an, andere schauten gar nicht hin, wieder andere schauten hin, waren aber geistesabwesend und lächelten nicht. Niemand fragte. Da war Bogdan beruhigt. Aber er wartete doch auf den Fischhändler. Damit er das Kind zum Mittagessen abholte.

Der kam dann auch. Ein bisschen später als versprochen. Bogdans Laden war dunkel, und hinten, wo das Kind neben dem Heizkörper saß, war es noch dunkler, und draußen schien inzwischen die Sonne, darum musste sich der Fischhändler erst an die Dunkelheit gewöhnen.

Ist sie nicht mehr da?, fragte er. Nun sah er sie. Er streifte ihr vorsichtig die Kapuze vom Kopf. Als sie ihn erkannte, schrie sie. Sie schrie, bis Bogdan sie auf den Arm nahm. Der Fischhändler sagte wieder: Du musst die Polizei rufen, Bogdan. Sie schrie.

Als sie sich beruhigt hatte, sagte der Fischhändler: Soll ich die Hmhm anrufen? Irgendjemand muss es tun. Du kriegst sonst Schwierigkeiten, Bogdan, ich würde vorsichtig sein.

Warten wir noch, sagte Bogdan. Komm am Abend wieder. Wenn sie noch da ist, kannst du die Hmhm rufen. Oder ich rufe sie. Komm auf jeden Fall. Wenn die Hmhm kommt, wäre mir recht, wenn du da bist.

Der Fischhändler streckte die Hand aus nach dem Kind, das Bogdan auf dem Arm hielt und an sich drückte. Diesmal schrie es nicht.

Am Abend war sie weg. Sie war durch den Hintereingang geschlichen und davongerannt. Sie hatte es genauso gemacht, wie es ihr der Onkel gesagt hatte. Der Onkel wartete auf sie. An der Stelle, an der sie sich verabredet hatten. Er war am Geschäft vorbeigegangen und hatte auf den Fingern gepfiffen. Das war niemandem aufgefallen. Auf dem Markt wird oft gepfiffen. Aber ihr war es aufgefallen. Der Onkel nahm sie an der Hand, und sie stiegen zu den anderen Männern in den Kleinbus.

Am nächsten Morgen stand sie wieder in Bogdans Laden. So ging es etliche Tage. Am Morgen war sie da, am Abend war sie weg. Bogdan gewöhnte sich an sie. Er belauerte sie auch nicht. Wenn sein Tag zu Ende war, tat er, als ob er auf der Gasse vor dem Geschäft zu tun hätte. Damit sie sich durch die Hintertür davonmachen konnte. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte, er könnte sie erwischen und aufhalten.

Wenn jemand fragte, sagte er, das Kind sei seine Nichte. Seine Schwester sei zu Besuch, sagte er, sie habe vorübergehend eine Arbeit in der Stadt gefunden, er passe vorübergehend auf ihr Kind auf. Wenn jemand fragte, wie die Kleine heiße, sagte er Evgenija. Der Fischhändler warnte wieder und wieder, es sei riskant und was daraus werden würde. Bei der Hmhm gebe es verständige Leute, denen man alles anvertrauen könne. Sicher sei eine Riesensauerei im Gange, und er mache sich eventuell mitschuldig. Bald aber sagte er nichts dergleichen mehr. Bald schrie sie auch nicht mehr, wenn sie ihn sah. Bald ließ sie sich sogar von ihm auf den Arm nehmen. Bald lachte sie ihn an, wie sie Bogdan anlachte. Sie redete auch. Aber weder Bogdan noch der Fischhändler verstand sie. Sie hatten keine Ahnung, in was für einer Sprache sie redete.

Sie kam am Morgen und ging am Abend. Bogdan schenkte ihr gefütterte Handschuhe und eine gefütterte Mütze mit Ohrenklappen und kleines Spielzeug, am liebsten spielte sie mit einem Omnibus, in dessen Fenster Kindergesichter gemalt waren. Der Fischhändler brachte einen Mantel mit, seine Tochter, sagte er, sei aus ihm herausgewachsen. Ein guter, gefütterter Mantel.

Der Onkel gab auf sie acht. Sie hatte zugehört, als die Männer in der Schlafstatt über sie sprachen. Manches hatte sie verstanden. Sie hatte verstanden, als der Onkel sagte: Sie muss sehen, dass sie über den Winter kommt. Sie hatte verstanden, dass der Onkel auf sie achtgeben wollte und dass er es nicht gern tat. Wie die anderen auch nicht. Aber sie taten es. Sie bekam die weichste Unterlage, die dickste Zudecke und Bananen. Die Männer redeten nicht mit ihr. Nur der Onkel redete mit ihr. Die Männer nickten ihr zu. Sie meinte, das bedeute, sie mache alles richtig. Darüber freute sie sich. Sie brauchte nichts zu tun und machte doch alles richtig.

Sie fror. Hunger hatte sie nicht

Und dann war der Onkel eines Abends nicht an der verabredeten Stelle. Sie wartete, wie er es ihr befohlen hatte. Sie steckte die Hände in die Fäustlinge, drückte sich die Mütze über die Ohren und verschränkte die Arme. Sie zog den Kopf ein, weil über dem Kragen ein Stück nackter Hals herausschaute. Sie stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind. Menschen gingen an ihr vorüber, aber keiner sagte etwas. Sie sah nicht aus, als wäre sie verlorengegangen. Sie sah aus, als wartete sie. Und das tat sie ja auch. Sie konnte die Marktstände sehen, auch Bogdans Laden konnte sie sehen. Sie sah, wie die Lichter in Bogdans Laden ausgingen. Dann gingen die Lichter bei allen Ständen und Läden des Marktes aus.

Sie fror. Hunger hatte sie nicht. Sie verschränkte die Arme, hob sie bis unter das Kinn. Wenn ihr alles, was sie sah und hörte, fremd zu werden begann, rieb sie die Lippen aneinander. Das war eine Angewohnheit. Es war schon oft vorgekommen, dass ihr alles, was sie sah und hörte, fremd wurde. So fest rieb sie die Lippen aneinander, dass sie wund wurden und brannten.

Sie stand an einer Straßenkreuzung. Sie beobachtete die Ampel, suchte die Wartenden auf der anderen Straßenseite ab. Ob einer darunter war, der dem Onkel glich. Nach einer Mütze mit einem Bommel schaute sie aus. In den Autos waren fröhliche Menschen. Die Straßenlampen schienen in das Innere der Autos, wenn sie an der Ampel anhielten. Im Auto war es warm. Sie sah niemanden, der im Auto eine Mütze oder Handschuhe anhatte.

Eine Frau blieb neben ihr stehen, beugte sich zu ihr nieder. Sprach etwas. Sie wusste nicht, ob es eine Frage war. Der Mund der Frau war geschminkt. Die Frau roch nach Seife. Sie drehte den Kopf weg. Dann drehte sie sich ganz um. Krümmte sich zusammen. Blieb so. Als sie über die Schulter blickte, war die Frau weitergegangen.

Schließlich machte sie sich auf. Ging in die Richtung, aus der sie glaubte, am ersten Tag mit dem Onkel gekommen zu sein. Aber es war Morgen gewesen, und jetzt war Abend. Alles sah gleich aus und anders als am Morgen. Die Straße war von Scheinwerfern und Laternen hell, darüber der Himmel war dunkel, als wenn kein Himmel wäre.

Der Onkel und sie an seiner Hand waren nicht auf der breiten Straße gekommen, auf der die Autos fuhren. Sie erinnerte sich, dass sie einen engen Torbogen durchschritten hatten, bevor sie auf die Straße gelangt waren. Sie fand den Torbogen nicht. Sie bog in eine Seitengasse ein und traf bald auf eine andere breite Straße, wo auch viele Autos fuhren. Sie ging ein Stück weit auf dem Trottoir, an den Schaufenstern entlang und kam zu einer Ampel. Dort standen Menschen und warteten, bis es Grün wurde. Sie wartete mit ihnen. Die Menschen überquerten die Straße, und sie folgte ihnen nach. Sie ging hinter den Menschen her, und als sie sich zerstreuten, ging sie anderen hinterher. Manchmal auch nur einem. Wenn der zu schnell ging, wartete sie auf einen nächsten. Sie sprach niemanden an. Sie ging so schnell, wie sie konnte. Darum fror sie bald nicht mehr. Irgendwann war niemand mehr zu sehen. Da blieb sie stehen und rührte sich nicht, bis ihr wieder kalt war. Sie kehrte um. Aber sie fand den Weg zum Markt zurück nicht mehr.

Sie kam an einer Kirche vorbei. Sie wusste nicht, was eine Kirche war, aber sie hatte Kirchen gesehen in ihrem Leben. Sie war nun sehr müde. Wenn sie die Knie durchdrückte, tat es weh. Der Kopf war ihr schwer. Und der Rücken tat ihr weh. Sie stieg über die Stufen hinauf. Sie wollte ein Loch finden, um in das große Haus zu gelangen. Die Tür machte ihr Angst. Die Klinke konnte sie nicht sehen, so weit oben war sie. Wenn sie den Kopf hob, war ihr, als beugte sich die schwarze Pforte über sie und wollte sie zudecken. Sie war nun auch wieder hungrig. Sie hätte gern von dem Weißbrot aus Bogdans Laden gehabt, am liebsten nur von dem Weißbrot, ohne Wurst und ohne Käse. Morgen wollte sie sich etwas davon in die Taschen stopfen. Bogdan hatte ihr eine Milch heiß gemacht, die war auch gut gewesen. Sie setzte sich auf die Stufen, zog die Hände mitsamt den Handschuhen in die Ärmel zurück, legte die Schläfe auf die Knie und nickte ein.

Sie wachte auf, weil sie zur Seite gefallen war, und vielleicht auch, weil die Kirchturmuhr schlug. So etwas hatte sie noch nie gehört und wollte sich lieber verstecken. Sie hüpfte über die Stiege hinunter und lief zu den Bäumen, die an einer Seite der Kirche wuchsen. Ihre kahlen Kronen lösten sich in der Dunkelheit des Himmels auf.

Zwischen den Bäumen an der Kirchenwand stand ein Container. Sie wusste, wozu ein Container dient, gleichwohl sie das Wort dafür nicht kannte. Mehrere Male schon war sie nachts mit den Frauen unterwegs gewesen, und sie hatten gute Sachen aus den Containern gefischt. Die Frauen hatten den Deckel zurückgeschoben und sie hochgehoben, und sie war ins Innere gesprungen. Dann hatten die Frauen mit der Taschenlampe hineingeleuchtet und hatten geflüstert und hatten sie gelobt, und sie hatte die guten Dinge herausgefischt, die dann zu Hause gewärmt und gegessen wurden. Sie hatte beobachtet, wie man den Deckel zurückschieben muss, um den Container zu öffnen. Es war ganz leicht gewesen. Sie konnte nichts anderes denken, als dass in allen Containern der Welt gute Dinge aufbewahrt seien. Die guten Dinge waren versteckt unter den schlechten Dingen, sie aber verstand, die guten von den schlechten zu unterscheiden.

Der Hunger war groß, aber die Müdigkeit war größer. Solche Müdigkeit hatte sie nie erlebt, sie meinte, die Brust sinke gleich vor ihr nieder bis zu den Knien und der Kopf falle herunter vom Hals. Zwischen Container und Kirchenwand war Platz. Dorthin kroch sie. Es war eng. Das gefiel ihr. Es war, als würde sie festgehalten. Sie schlief ein. Als die Glocken wieder schlugen, wachte sie nicht auf. Aber nach Mitternacht wachte sie auf.

Sie fror. Ihre Hände spürte sie nicht. Erst war sie kein bisschen hungrig, aber gleich war sie es wieder. Sie stemmte sich mit den Beinen gegen die Mauer und zog sich am Container nach oben. Sie versuchte, den Deckel nach hinten zu schieben. Sie konnte es nicht so gut, wie es die Frauen gekonnt hatten. Sie stieß sich mit den Füßen von der Mauer ab und hielt sich fest am Griff des Deckels. Zu einem schmalen Spalt öffnete sich der Container, sie schlüpfte hinein und fiel. Sie fiel auf den Müll. Es war stockdunkel. Sie tastete nach den guten Dingen. Sie fand eine Bananenschale und nagte sie ab. Noch ein paar Dinge fand sie, die gut rochen und sich beißen ließen. Viel Weiches war hier. Zeitungen und anderes. Sie legte sich darauf, krümmte sich in den Mantel. Es war wärmer hier als draußen.

Sie schlief ein und wachte lange nicht auf. (Michael Köhlmeier, 24.12.2015)