Religion und Gesellschaft, Christentum und Politik sind auch heute noch Reizthemen. Dazu wurden Kriege geführt, Menschen getötet, Herrscher legitimiert und Reiche gestürzt. Die einen hofften (andere fürchteten), dass im Zuge von Wirtschaftsentwicklung und Säkularisierung die Religionen ganz an den Rand gedrängt werden könnten. Doch diese Erwartung trog. Im Folgenden ein – höchst subjektives – Plädoyer für die Wertschätzung von Religion.

Menschen und Affen

Kürzlich besuchte ich im Kongo unsere nächsten Anverwandten, die Gorillas. Es ist berührend, ihre Körpersprache, den zärtlichen Umgang mit ihrem Nachwuchs, Verhalten und Instinkt zu beobachten (ein Spiegel unseres eigenen Agierens). Und dennoch – trotz 99 Prozent genetischer Identität – liegen Welten zwischen uns. Selbstreflexion, Infragestellen, Abstraktionsvermögen, Kunst, Humor – all dies und noch viel mehr trennt uns.

Deshalb für uns die bohrende Frage nach dem Sinn unseres Daseins: Woher, wohin, wozu? Die ersten Spuren von Menschen sind in Ostafrika zu finden – und gar nicht so weit entfernt lebten in einem recht kleinen Umkreis von 2000 Kilometern die bedeutendsten Religionsstifter: Abraham und Moses, Jesus und Mohammed. Religionen, die bis heute wirkmächtig sind. Rolle und Bedeutung mögen sich zwar ändern, waren diese Schriften doch einst ganzheitliche Lebens-Wegweiser: Nahrung, Kleidung, Hygiene, Sexualverhaltung, Familie, Streitschlichtung, Legitimierung von Herrschaft – (fast) alles fand sich darin. Dies hat weitestgehend der moderne Rechtsstaat übernommen. Was bleibt heute? Die mühsame, unbequeme Suche nach dem Sinn unseres Daseins. Hier wird Tiefe, nicht nur Oberfläche verlangt. Das Ganze, nicht nur die Teile.

· Religionen müssen mit Pluralität leben! Es macht einen großen Unterschied, ob sich Religionen auf Offenbarungen berufen, die direkt von Gott überliefert, oder auf solche, die auf Umwegen durch menschliche Mittler zu uns gelangt sind. Letztere sind leichter für Interpretationen offen. Solche Religionen können mit Gesellschaft, Wissenschaft und Entwicklung mitwachsen. Das Christentum hat sehr früh viele Erfahrungen mit Pluralität gemacht: Spaltungen, Häresien, Abweichler.

Fruchtbare Abweichler

· Dissenters beachten! Abweichler von heute – Gründer von morgen. Die USA wurden von Dissenters gegründet – von Mennoniten, Calvinisten, Presbyterianern. Sie haben wesentlich zur Entwicklung der Demokratie beigetragen. Die christliche Ethik geht oft ziemlich diametral gegen die menschliche Natur, denken wir etwa an "Halte auch die andere Wange hin", "Wer bestellt, dem gib" und "Die Letzten werden die Ersten sein". Religion, besonders das Christentum, ist eben oft das Andere, das in unseren Alltag drängt, uns befragt, stört, provoziert, konfrontiert: Was bleibt, was kommt, was ist richtig und wahr ...?

· Tapferkeit setzt Verwundbarkeit voraus! Nach 1945 war es einfacher. Man suchte eine neue Ordnung gegen totalitäre Versuchungen, die über Partikularinteressen hinaus fragt, was gut für das Land ist. Das prophetische Wort von Novalis "wo keine Götter sind, walten Gespenster" hatte Europa ja gerade durchlitten. In dieser Zeit schrieb Romano Guardini an seinem "Viergespann", seiner Studie über die vier Kardinaltugenden Prudentia, Iustitia, Fortitudo und Temperantia. Die Klugheit ist dabei den anderen übergeordnet. Denn jede Sünde ist gegen die Klugheit gerichtet. Tapferkeit wiederum setzt Verwundbarkeit voraus. Tapfer ist, wer bereit ist, sich für eine gute Sache verwunden zu lassen.

· Nichts beschönigen! Vieles wurde dem Christentum von außen erst aufgedrängt, teils sogar aufgezwungen: Demokratie und Mitbestimmung, Freiheit des Individuums, Menschenrechte, Trennung Staat/Kirche, Vorrang des öffentlichen Rechts, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es fällt übrigens auf, dass alle großen Religionen Probleme mit der Rolle der Frau haben. Dabei geht es doch nicht um eine Randgruppe, sondern um die Mitte der Gesellschaft, die Mehrheit 50 plus. 80 Prozent der Arbeit in den Gemeinden werden von Frauen geleistet. Jeder weiß, dass die Vermittlung von Religion großteils über die Frauen (Mütter und Großmütter), nicht Priester, Rabbiner, Imame, Schriftgelehrte oder Theologen läuft. Was steckt also hinter diesem Vergessen/Verdrängen der Mehrheit?

· Radikale Laizität versus religiösen Fundamentalismus. Die Trennung von Staat und Kirche war durch Jahrhunderte ein schmerzhafter und quälender Prozess – letztlich durchgesetzt, um die religiösen Freiheiten zu garantieren. Dies ist heute zweifach bedroht. Zum einen von einer aggressiven Laizität, zum anderen von Fundamentalisten, die den Staat für sich beanspruchen. Dazu vor kurzem Paolo Flores d'Arcais (in Lettre International, Herbst 2015): "Laizität ist die Kernfrage der Demokratie. Eine Frage von Leben und Tod. Der öffentliche Raum ist unteilbar. Entweder Ausschluss Gottes aus dem gesamten öffentlichen Raum oder der Einbruch seines souveränen Willens in die feinsten Verästelungen des sozialen Lebens. Jede Öffnung ist ein trojanisches Pferd ... Daher Ausschluss Gottes, seines Wortes, der Symbole aus allen Bereichen, in denen Staatsbürger Hauptakteure sind (vor allem den Schulen, Anm.) ... Den Gläubigen bleiben Kirche, Moschee, Synagoge und Privatsphäre ... Religion ist nur dann mit Demokratie vereinbar, wenn sie bereit ist, das erste Gebot republikanischer Souveränität zu erfüllen: 'Du sollst den Namen Gottes nicht im öffentlichen Raum aussprechen.'" Sehr seltsame Auffassung!

Sich einmischen

· Christen dürfen sich nicht verdrängen lassen – standhalten! Religion ist heute in der Sinnsuche vielfacher Konkurrenz ausgesetzt. Yoga und Esoterik, Schamanismus und Aberglaube stehen zur Auswahl. Quasireligionen bieten sich auf dem Sinn-Catwalk an. Und doch – trotz aller Konkurrenz, Religionen behaupten sich. Europa ist nach wie vor durch das Christentum geprägt. Der 7-Tage-Rhythmus, die Sonntagsruhe, Weihnachten, Ostern, Weg- und Gipfelkreuze usw. Aber auch in der aktuellen Diskussion ist der Beitrag der Christen mehr denn je gefragt. Auch um den sich manchmal breit und träge dahinwälzenden Mainstream zu hinterfragen: die Überforderung der Familie (Vereinbarkeit von Familie und Beruf), der häufige Verzicht auf Kinder, sexuelle Freizügigkeit, Eugenik, Sterbehilfe, Verschwendung. Sich einmischen, nicht wegducken!

· Hoffnung und Halt geben! Eric Hobsbawm spricht von "Dekaden der Unsicherheit". Hier kann und soll das Christentum eine Zukunftsoffensive gegen Angstmacher und Untergangspropheten sein. Das geht manchmal bei kirchlichen Texten ab. Gerade die christliche Soziallehre hat doch in exemplarischer Art das Konzept der sozialen Marktwirtschaft geprägt. Ein wahrer Exportartikel, der uns die richtige Balance zwischen Gewinnstreben, sozialer Verantwortung und ökologischer Nachhaltigkeit weist. In manchen Enzykliken findet man leider wenig über Innovation, Forschung und technologischen Fortschritt, die uns ja seit 200 Jahren spektakuläre Verbesserungen unserer Lebensqualität brachten.

Die unter Uno-Generalsekretär Kofi Annan erarbeiteten 2000-Millenniumsziele sind ein beachtlicher Erfolg. Die Halbierung der weltweiten Armut wurde fünf Jahre früher erreicht. Die Senkung von Kindersterblichkeit und Müttermortalität, deutlich verbesserte Alphabetisierung und Bildungsangebote sind ein großer Fortschritt. Ein Ansporn für Christen, es noch besser zu machen und Hoffnung zu geben: Ihr schafft mehr, als ihr denkt! Ihr könnt mehr sein, als ihr euch zutraut! Ihr könnt über euch hinauswachsen! Ein EU-Angelion eben, eine Frohbotschaft! (Wolfgang Schüssel, 23.12.2015)