Es war besonders schwierig, die in "Stories" stehende Geschichte über mich selbst zu lesen. Heute, zwei Jahre nachdem ich mit Stim gesprochen habe, bin ich fassungslos.

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Reportagen aus 20 Jahren in JM Stims neuem Buch.

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Es passiert nicht jeden Tag, dass man ein Buch aufschlägt und darin von einer Geschichte überrascht wird, die von einem selbst handelt. Noch seltener passiert es, dass man gebeten wird, eben dieses Buch zu besprechen. Aber es gibt Bücher, die spotten allen Befürchtungen, ja schwelgen vielleicht sogar in ihnen, und sie verschwinden nicht, bis man ihnen Tribut gezollt hat. JM Stims "Stories 1995-2015" (redelsteiner dahimène edition, 239 Seiten), ist so ein Fall. Darin versammelt Stim aka Klaus Stimeder Porträts, Interviews und Reportagen aus 20 Jahren des journalistischen Teils seines schreiberischen Schaffens. Der Leser – vielleicht ein wenig schockiert davon, dass seit 1995 tatsächlich schon 20 Jahre vergangen sind – ist dabei unwillkürlich versucht, nach einem roten Faden zu suchen, einem narrativen Strang, der die in dem Band vereinten Geschichten in eine einzige, hübsch einheitliche zusammenwebt; vorzugsweise in eine, die wir uns selber gern erzählen würden. Aber nicht anders als die vielen nonkonformistischen Persönlichkeiten, die die Seiten dieses Buchs bewohnen, widerstehen die "Stories" jeder Reduktion wie jeglicher Trostspenderei.

Was zum Vorschein kommt, ist eine geradewegs zum Trotz breit angelegte Sammlung, so vielfältig wie die Interessen ihres Autors und so unberechenbar wie sein Karriereweg. Die Orte, an denen die Stories spielen, scheinen die Eckpunkte einer größeren Erzählung zu markieren: Wien, Belgrad, Jerusalem, Kandahar, New York, Los Angeles, et cetera. Aber Stim ist weit weniger interessiert an den Orten als an den Menschen. Eine kleine Auswahl der von ihm verhandelten Themen vereint eine seltsame Ansammlung von Charakteren, die höchstens eines gemeinsam haben: ihr Beharren auf ein Leben das sie, egal wie fragil oder provisorisch es ist, wie würdig oder verdient, wie wahnhaft oder fehlgeleitet, ihr eigen nennen können. Da treffen wir zum Beispiel zwei junge Israelis, die bei Terroranschlägen schwer verletzt wurden; auf Kultur-Ikonoklasten wie Gary Indiana oder John Lurie; auf einen jungen Moslem, der sich später dem Islamischen Staat anschließen wird, oder auf den Manager einer Wiener Peep-Show.

Narrative des Lebens

Wenn es eine Klammer gibt, die all dies zusammenhält, ist es Stims Erzählweise. Die darf man auf keinen Fall mit Stims eigener Geschichte verwechseln. Selbst in der Einleitung des Buchs (verfasst von Michael Frank, dem langjährigen Mitteleuropa-Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung") ist des Autors Perspektive auf 20 Jahre Reportertum auffallend abwesend. Stims "Stories" sind von den von ihm beschriebenen Subjekten geformt, denen er mit großer Sorgfalt und Großzügigkeit gegenüber tritt – die er aber gleichzeitig herausfordert, testet und in der Folge subtil nachzeichnet, wie oft sicher geglaubte Narrative des Lebens dazu neigen, plötzlich und ohne Vorwarnung abzureißen und entsprechend immer wieder aufs neue zusammengeflickt werden müssen. Das trifft auf seine Celebrity-Interviews ebenso zu wie auf seine weniger bekannten Gesprächspartner – namentlich Leuten wie mir, den zum "Failed Intellectual" und "Internet aphorist" gewordenen Uniprofessor in mittleren Jahren.

Deshalb war es auch besonders schwierig, die in "Stories" stehende Geschichte über mich selbst zu lesen. Heute, zwei Jahre nachdem ich mit Stim gesprochen habe, bin ich fassungslos angesichts meiner damaligen Selbstüberschätzung, meinen naiven Plänen, die nie ganz verwirklicht wurden und meiner Bereitschaft, viel zu offen mit einem Reporter zu reden, den ich gerade erst kennengelernt hatte. Nachdem das Gespräch mit ihm an einem schönen Herbsttag auf dem Dach eines Hauses in Spanish Harlem geführt wurde, war es klarerweise das Bier, das wir aus der Bodega gegenüber mitgebracht hatten, das das Reden erleichterte. Aber es war auch etwas anderes. Etwas, das in allen von Stims Arbeiten klar hervor tritt: sein zähes Beharren darauf, seine Gesprächspartner aus der Geschichte heraus zu lösen, die sie über sich selbst erzählen wollen und vorher sorgfältig einstudiert haben.

Wir sehen Stimeder die, die er trifft, implizit oder explizit herausfordern.
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Quer durch die gesamte Sammlung sehen wir ihn die, die er trifft, implizit oder explizit herausfordern, um am Ende von ihnen eine Geschichte zu hören, die sie vielleicht noch nie erzählt haben, nicht einmal sich selber: die Geschichte darüber, wer sie in diesem Moment sind, oder sein wollen, oder fürchten zu sein. Tatsächlich sind die Mehrheit der Porträts und Interviews für die unmittelbare Gegenwart geschrieben. Die meisten von ihnen sind ursprünglich in Tages- und Wochenzeitungen erschienen. Als solche kümmern sie sich nicht um langfristige Entwicklungen, was viel vom Wert dieser Sammlung ausmacht. Die Konzentration auf die Gegenwart verhindert ausladende, pompöse Erzählungen, die Stims Talent für genaue Beobachtung und seine notwendige Geduld, die Details die Geschichte erzählen zu lassen, nur behindern würden.

Letztendlich ist Stim auf eine Art von erzählerischer Authentizität aus, die oft berührt, dabei aber nie sentimental wird; die nachhallt in ihrem Bestehen auf die unordentliche Wahrheit des Augenblicks. Stim kennt die Macht einer Geschichte. Aber, was noch wichtiger ist: Er weiß, dass sorgfältiges Zuhören bei einer Geschichte auch etwas anderes bedeutet: Lernen, wie man sie in Worte fasst. (Eric Jarosinski, 23.12.2015)