Bild nicht mehr verfügbar.

Demonstranten zerreißen ein Plakat des rechtsliberalen Kandidaten Jovenel Moïse in Port-au-Prince. Kritiker sehen in ihm einen Strohmann des Präsidenten Michel Martelly und der USA.

Foto: APA / EPA / Hector Retamal

Port-au-Prince/Puebla – Stabilität sollten die diesjährigen Wahlen bringen, stattdessen stürzten sie Haiti wieder einmal derart ins Chaos, dass die für gestern, Sonntag, geplante Stichwahl bis auf weiteres verschoben wurde. Fast sechs Jahre nach dem schweren Erdbeben ist die Infrastruktur der karibischen Halbinsel zwar wieder einigermaßen aufgebaut – doch der Entwicklungsschub, den der Wiederaufbaukoordinator, Ex-US-Präsident Bill Clinton, versprochen hatte, ist ausgeblieben. Von Demokratie und Rechtsstaat ist das Land weit entfernt. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die USA, tragen dafür mindestens so viel Verantwortung wie die haitianische Elite.

Wahlen, Wahltermine und Wahlrat sind in Haiti drei Synonyme für politische Krisen. Die Macht zwischen den vielen Clans neu aufzuteilen ist jedes Mal ein Schlachtfest. Der nach dem Sturz von Diktator Jean-Claude Duvalier 1986 geschaffene Wahlrat ist provisorisch – weil sich die Parlamentsfraktionen nie auf eine endgültige Besetzung einigen konnten. Das Parlament ist zersplittert, die nach französischem Vorbild entworfenen Institutionen blockieren sich gegenseitig, und politische Konflikte werden regelmäßig auf der Straße ausgetragen.

Wegen Streitereien zwischen dem rechtsliberalen Präsidenten Michel Martelly und der Opposition fanden von 2011 bis 2015 gar keine Wahlen statt; der Staatschef regierte per Dekret.

Wahlfiasko im Sommer

Als die internationale Gemeinschaft die Parteien im August zu Parlamentswahlen bewegt hatte, kam es zum Fiasko: Nur 18 Prozent der Wähler gaben ihre Stimme ab, Wahllokale wurden verwüstet oder in Brand gesteckt. Als die Stimmen ausgezählt waren, stellte sich das neue Parlament als ebenso zersplittert heraus, wie es das alte gewesen war.

Ruhiger verlief die erste Runde der Präsidentschaftswahl im Oktober: Diesmal gingen zwar 26 Prozent an die Urnen, doch die Proteste flammten auf, als das Ergebnis bekannt wurde. Laut Wahlrat zogen der Kandidat des rechtsliberalen, US-freundlichen Regierungslagers, der völlig unbekannte und politisch unbeleckte Unternehmer Jovenel Moïse, und der politisch eher links der Mitte zu verortende Exminister Jude Célestin in die Stichwahl ein. Verdacht erregte neben der Nachwahlbefragung, in der Moïse nur Viertplatzierter war, auch die Ausgabe von 900.000 Wahlausweisen an "Beobachter von Parteien". Diese ermöglichten ihren Inhabern nicht nur freien Zugang zu den Wahllokalen, sondern eine Stimmabgabe, ohne in das entsprechende Wahlregister eingetragen zu sein.

Célestin, der von einer "Farce" sprach, forderte die Absetzung der Mitglieder des Wahlrats. Außerdem müsse der erste Durchgang von einer unabhängigen Kommission untersucht werden. Unterstützt wurde er von weiteren sieben Kandidaten, die alle vermuten, dass es Wahlbetrug zugunsten von Moïse gegeben hat und dass dessen Wahlsieg bereits zwischen dem ehemaligen Sänger Martelly und den USA ausbaldowert ist. Moïse gilt als US-freundlicher Strohmann Martellys, leidet jedoch unter dem Prestigeverlust des Präsidenten, der zwar viel Geld in PR-Kampagnen steckte, sonst aber hauptsächlich mit seinen Kritikern stritt und nur wenig tat, um die sozialen Gräben zu schließen. Mehr als 60 Prozent der Haitianer sind arm, davon fristen 40 Prozent ein Dasein unter dem Existenzminimum.

US-Entwicklungsstrategie

Célestin ist wegen seiner Nähe zum linkspopulistischen Expräsidenten Jean-Bertrand Aristide den USA ein Dorn im Auge. Die USA betrachten Haiti als ihren Hinterhof und haben eine Entwicklungsstrategie entworfen, die das Land als Werkbank für US-Modelabels sieht. 80 Prozent aller haitianischen Exporte sind Textilien, der Rest landwirtschaftliche Produkte wie Mangos und Kakao. Ansonsten hängt das Land am Tropf der Entwicklungshilfe.

Nach dem Beben flossen mehr als sechs Milliarden US-Dollar (5,5 Milliarden Euro) Wiederaufbauhilfe ins Land. Doch sie verpufften – in Gehältern, Büros, Seminaren, Notfallhilfe wie Trinkwasser und Zelten. Der Wiederaufbau von Häusern für die 1,5 Millionen Obdachlosen scheiterte zum Großteil daran, dass Haiti kein Landkataster besitzt. Auf jedes Stück Grund und Boden erheben im Schnitt drei Personen Anspruch.

Die internationale Gemeinschaft, die seit 1993 mit einigen Unterbrechungen in Form von UN-Missionen präsent ist, schreckt vor zu viel Interventionismus zurück. Viele gute Initiativen versandeten außerdem in der ineffizienten Bürokratie. Hinzu kommt der fast völlige Kahlschlag zur Holzkohlegewinnung und der Braindrain: 86 Prozent aller Haitianer mit einem mittleren und höheren Bildungsabschluss verlassen das Land. (Sandra Weiss, 28.12.2015)