Wien – "Cindy lernt singen und erlebt ein Wunder." Was so märchenhaft beginnt, wird für die Protagonistin von Sabine M. Grubers Roman zu einem Albtraum werden. Doch das begreift Lucinda Franck erst nach und nach. Die Bilderbuchblondine geht nämlich voller Naivität und ungläubiger Zuversicht in das Abenteuer, in einem der berühmtesten Wiener Chöre mit nobler Innenstadtadresse zu singen – und gerät erst allmählich in das Getriebe dieses Apparats, der ganz auf seinen Leiter mit dem Spitznamen "Wolf" zugeschnitten ist.
Eskapaden des Eros
"Wolf", ein Machtmensch der übelsten Sorte, der insbesondere die Choristinnen einteilt wie Vieh und sich regelmäßig die Gustostückerln für seine erotischen Eskapaden aussucht, bevor er sie buchstäblich abserviert. Der seinen "Chorus" nicht nur durch ein perfides Reglement an der kurzen Leine hält, sondern die Sängerinnen und Sänger in den Proben systematisch gängelt und demütigt. Der dabei äußerst zweifelhafte musikalische Fähigkeiten an den Tag legt – und jenen Dirigenten, der Chor und Orchester zusammenbringt und dann plötzlich allen Mühen und Entbehrungen einen tiefen Sinn gibt, fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, während er ihn doch für die ganz großen Auftritte braucht – und zugleich in seinem Schatten steht, was ihm wiederum den größten Schmerz und Neid einflößt.
Ein Teufelskreis überlagert im berühmten Chor den anderen. Nur schreibend weiß sich Cindy zu helfen, indem sie die Dynamik zu verstehen sucht, in der alle gefangen sind – durch das Singen werden die Chormitglieder dünnhäutig: "Und genau dann, wenn unsere Verwundbarkeit am größten ist, schlägt Wolf auf uns ein, immer und immer wieder." Ohne den anderen, den großen Dirigenten – "Schlüsselfigur, Rettungsanker, Hoffnungsträger" –, "würde das System ,Chorus' zusammenbrechen."
Diese Lichtgestalt nennen Freunde und Bewunderer liebevoll "Wickie" – ein Kosename, auf den sich jeder einen Reim machen kann, der mit dem Wiener Musikleben vertraut ist. Die Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist augenscheinlich – wiewohl Sabine M. Gruber diese Anspielungen durchgängig verdichtet. Nüchterne Protokolle aufwühlender Probenarbeit, die sich tagtäglich abspielt, fließen mit der Befindlichkeit von Cindy zusammen, die die Mechanismen der Machtspiele schrittweise erkennt. Gleichzeitig vervollständigt sich das Psychogramm des Chorleiters, in das sogar grafologische Argumente einfließen, einschließlich einer Typologie seiner anderen Opfer und Adepten.
Mancherlei Querbezüge
Die junge Frau befreit sich indessen mehrfach von ihm – nicht zuletzt durch eine Liebesgeschichte, die dem auch in seinen Genrewechseln und sprachlichen Spitzfindigkeiten virtuos geschriebenen Buch vollends romanhaftes Gepräge gibt. Wer die anderen Bücher von Sabine M. Gruber kennt, kann außerdem mit Vergnügen Querbezüge feststellen. Für alle anderen winkt am Ende zumindest die Erleichterung, dass es ein Erwachen aus dem Albtraum, ein Leben nach dem "Chorus" gibt. (Daniel Ender, 30.12.2015)