Schwer bewaffnete Polizisten, die Bahnhöfe absperren, Warnungen der Behörden, Menschenansammlungen zu vermeiden – in München herrschte nach einer Terrorwarnung alles andere als Partystimmung zu Silvester. Mittlerweile gab der deutsche Innenminister wieder Entwarnung.

Deutschland rücke zwar mehr in den Fokus von Gruppen wie den IS, aber bisher spiele die Bundesrepublik keine große Rolle in der IS-Propaganda, sagt der Politologe und Autor Dirk Baehr im Interview mit dem STANDARD. Es sei aber zunehmend eine Vernetzung der Szene in Europa festzustellen. Das mache die Sache gefährlicher.

STANDARD: Warum ist Deutschland mittlerweile ein Terrorziel des Islamischen Staats?

Dirk Baehr: Der IS plant etwa seit einem Jahr Anschläge in Europa. Das primäre Ziel war aber immer Frankreich. Dadurch, dass Deutschland Frankreich in Syrien nun militärisch unterstützt, rückt Deutschland selbst etwas mehr in den Fokus. Aber im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien und Belgien gibt es hier immer noch weniger Fälle von Anschlagsplänen. Deutschland spielt bisher in der IS-Propaganda auch keine große Rolle.

STANDARD: Existiert in München überhaupt eine Jihadistenszene?

Baehr: In München selbst gibt es keine ausgeprägte Jihadistenszene. Die existiert in Deutschland eher in Bonn, im Ruhrgebiet oder in Berlin. Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass circa 700 Deutsche in Syrien waren, einige von ihnen werden als Gefährder angesehen. Deutsche Jihadisten stehen in Verbindung zu Mohamed Mahmoud und seiner Organisation Millatu Ibrahim (Mahmoud ist ein österreichischer Salafist, der sich derzeit in Syrien aufhalten dürfte, Anm.) Er hat ja vor einigen Monaten in einem Video angekündigt, dass Deutschland und Österreich Anschlagsziele sein werden.

Bei dem aktuellen Fall in München scheinen jedoch die potenziellen Attentäter Syrer und Iraker zu sein, also keine Deutschen, die in Syrien sind.

STANDARD: Wie würden Sie es bewerten, falls wirklich Iraker oder Syrer hinter den Anschlagsplänen stecken?

Baehr: Das hat eine andere Dimension und erinnert an Al-Kaida der ersten Generation. In diesem Fall wird es für die Behörden nochmal schwieriger, auf die Spur der Verdächtigen zu kommen.

STANDARD: Inwieweit hätten deutsche Jihadisten überhaupt das Know-How für Terroranschläge?

Baehr: Ich glaube, dass das Know-How bis jetzt nicht sehr umfangreich ist, aber es ist zunehmend eine Vernetzung der Szene in Europa festzustellen. Das macht die Sache gefährlicher.

STANDARD: Müssen wir uns damit abfinden, dass der IS-Terror nun auch in Europa allgegenwärtig ist?

Baehr: Das Problem ist, dass wir mit dieser Diskussion auch ein Ziel des Islamischen Staats bedienen. Denn der IS will genau das: Die Bevölkerung soll in einen permanenten Angstzustand versetzt werden, die Eliten zu Überreaktionen gezwungen werden. Ich halte zum Beispiel die Militärschläge Frankreichs in Syrien als Reaktion auf die Paris Anschläge für einen Fehler. Man hätte sich besser Zeit lassen und eine richtige Militärstrategie entwickeln sollen. Die IS-Strategie zielt darauf ab, Staaten herauszufordern, in dem man sie in einen Angstzustand versetzt. Das muss der Bevölkerung klar gemacht werden. In Europa hat man sich auch noch nicht genug mit dem Aspekt der asymmetrischen Kriegsführung auseinandergesetzt.

STANDARD: Trotzdem muss man der konkreteren Bedrohung in Europa begegnen? Reichen verstärkte Sicherheitsmaßnahmen und eine Verschärfung der Gesetze?

Baehr: Ich halte zum Beispiel nicht viel von der Vorratsdatenspeicherung. Damit vereitelt man keine Anschläge. Die Gefährder stehen bereits unter Beobachtung der Dienste. Sehr wichtig sind meiner Meinung nach Maßnahmen zur Deradikalisierung und ein offener Diskurs über den Umgang mit Islamfeindlichkeit in Europa. Es war ein Fehler, die Terrorismusdebatte mit der Integrationsdebatte zu verknüpfen. Das weiß man spätestens seit Entstehung von Pegida. In der Radikalisierungsforschung stellt man fest, dass viele Jugendliche sich zwar integrieren möchten, sich aber trotz allem nicht anerkannt fühlen. Erst dann findet die Radikalisierung statt. (Manuela Honsig-Erlenburg, 1.1.2016)