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An der Küste von Lesbos ein aus Rettungswesten von Flüchtlingen geformtes Friedenssymbol.

Foto: REUTERS/Giorgos Moutafis

Die österreichische NGO Alpine Peace Crossing unterstützt ein Frauenzentrum in Amude in Syrien, das Binnenflüchtlinge betreut. Diese haben alles verloren, von ihren Häusern verblieben nur Fassaden mit glaslosen Fenstern, wie tote Augen. Viele dieser "internally displaced persons" haben auch Angehörige oder Bekannte, die verschleppt oder getötet wurden.

Die Gerätschaften, die zu diesem Leid beigetragen haben, waren Raketen und Geschütze aus den USA, Russland, Großbritannien, Deutschland oder China und Feuerwaffen und Drohnen aus Frankreich, Iran, Saudi-Arabien, Niederlande, Italien, Spanien – und Österreich.

Die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Dörfer ist für diese Menschen auch gestorben. Dort in Amude, im nördlichen kurdischen Teil des Landes, fühlen sie sich derzeit noch sicher. Aber wie lange noch?

Am liebsten würden viele von ihnen nach Europa kommen, aber sie sind die Allerärmsten; sie haben nicht einmal die Mittel, um Schlepper zu bezahlen, die sie in ein Lager in die Türkei, den Libanon oder nach Jordanien bringen würden. So sind Sorge, Angst und der tägliche Kampf um das existenzielle Leben ihre ständigen Begleiter.

Viele andere machen sich dennoch auf den Weg, oft nachdem sie alles, was ihnen (noch) gehörte, zu Geld gemacht haben. 2015 kam eine Million Flüchtlinge nach Europa, wo man sich fragt:

Wie viele Flüchtlinge kann Europa noch aufnehmen?

Eine Größenordnung von sechs Millionen bis 2020 erscheint sowohl verkraftbar als auch zumutbar. Warum nicht vier, acht, zehn oder 15 Millionen? Wie soll Kapazität definiert werden?

Diese ist (wegen der Erfordernisse betreffend Integration und Betreuung) zum Ersten abhängig von der Anzahl der Menschen, die sie "willkommen" heißen sollen. Zum Zweiten ist sie (aus budgetären Gründen) von der Leistungsstärke der einzelnen Volkswirtschaften abhängig, weiters von der Bevölkerungsdichte der einzelnen Länder, der demografischen Zusammensetzung ("Alterspyramide") und anderen Faktoren.

Die Zahl von sechs Millionen entspricht weniger als zehn Prozent der von UNHCR geschätzten 65 Millionen Menschen, die sich derzeit weltweit auf der Flucht befinden. Sie stellt außerdem gerade einmal ein Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung dar. Dazu zähle ich alle europäischen Länder, selbstverständlich auch alle Nicht-EU-Länder wie Norwegen und die Schweiz. In der Folge sollte bis 2025 eine Aufnahmekapazität für weitere sechs Millionen Menschen möglich sein, also in Summe zwölf Millionen oder weniger als zwei Prozent der Bevölkerung in Europa (ohne Russland).

Wie viel wird das kosten?

Die Europäische Kommission hat (zum Beispiel für Resettlement/Relocation) für die – äußerst geringe – Zahl von 120.000 UNHCR-Flüchtlingen Kosten von 6.000 Euro pro Flüchtling im ersten Jahr und 4.000 Euro im zweiten Jahr angesetzt. Eine Hochrechnung dieser Zahl auf sechs Millionen Flüchtlinge bis 2020 würden Kosten von 36 Milliarden Euro ergeben.

Dies ist eine beachtliche Summe, sie ist aber gering im Vergleich zu den Beträgen, die für Bankenrettungen in Europa in den vergangenen Jahren ausgegeben wurden: Allein in Deutschland wurden laut der Deutschen Bundesbank vom Steuerzahler seit 2008 236 Milliarden Euro aufgewendet. Die führenden Köpfe der Finanzbranche (G30) fordern zu Recht "Mehr Moral bei den Banken" ein ("Handelsblatt", Juli 2015), und berufen sich dabei auf eine Zusammenstellung der Boston Consulting Group: In den Jahren 2011 bis 2014 mussten amerikanische und europäische Banken "Strafzahlungen" in Höhe von 190 Milliarden US-Dollar leisten, wovon ca. 70 Milliarden auf europäische Banken entfielen.

Wie kann man das finanzieren?

Über die Frage humanitärer Empathie hinausgehend, haben viele Länder eine Zusatzverpflichtung, die sich aus ihrer Stakeholder-Funktion für kriegsbedingte Flüchtlingsströme ergibt. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um die Wahrnehmung einer Verantwortung. Arthur Miller sagte 1964 in seinem Theaterstück "Incident at Vichy": "I don't want your guilt, I want your responsibility."

Es ist ein Faktum, dass die Flüchtlingskrise im Nahen Osten vor allem durch die USA, Russland, Großbritannien, Saudi-Arabien und Iran verursacht wurde – und nach wie vor wird. Und es ist auch ein Faktum, dass der Konflikt und das Leid der Menschen ohne gigantische Waffenlieferungen nie ihre erschreckenden Dimensionen erreicht hätten.

Weltweit werden Waffen im Wert von ca. 100 Milliarden Euro exportiert. Auf europäische Länder entfällt dabei ein Anteil von ca. 30 Prozent oder ca. 30 Milliarden Euro. Die zehn größten Waffenexportnationen der Welt sind USA (29 Prozent), Russland (27 Prozent), China (sieben Prozent), Deutschland (sechs Prozent), Frankreich (fünf Prozent), Großbritannien UK (vier Prozent), Spanien und Ukraine (je drei Prozent), Italien und Israel (je zwei Prozent). China hat seine Waffenexporte in den vergangenen vier Jahren um über 140 Prozent gesteigert.

Die fünf größten Waffenimportnationen sind Indien, Saudi-Arabien, China, die Vereinigten Arabischen Emirate, Pakistan. Das Magazin "Profil" hat in seiner 36/15-Ausgabe aufgedeckt (als Beispiel für viele "Waffen-Karusselle"), dass Drohnen, die von der österreichischen Firma Schiebel an die Vereinigten Arabischen Emirate für angeblich zivile Zwecke geliefert wurden, im Rahmen der Angriffe von Saudi-Arabien auf schiitische Huthi-Rebellen im Jemen eingesetzt wurden.

Österreich rangiert in der Waffenexportstatistik, je nach Vergleichsjahr, an 25. bis 50. Stelle der Welt. 2014 wurden Waffen im Wert von 19 Millionen Euro exportiert, 2002 oder 2007 waren es jeweils ca. 100 Millionen Euro.

Vorschlag: Steuer auf europäische Waffenexporte

Jedes waffenexportierende Land ist Stakeholder kriegerischer Auseinandersetzungen, ist damit Mitverursacher der Flüchtlingsprobleme und soll daher auch Teil ihrer Lösung sein.

Durch die Einhebung einer zehnprozentigen Steuer auf die europäischen Waffenexporte könnte jährlich ein substanzieller Beitrag (ca. drei Milliarden Euro) zu den Kosten von 36 Milliarden Euro für sechs Millionen Flüchtlinge bis 2020 abgedeckt werden.

Was kann die österreichische Bundesregierung tun?

1) Die Bewältigung der Flüchtlingskrise macht das Thema zur Chefsache. Derzeit sind die Agenden auf mehrere Ministerien aufgesplittet. Stattdessen sollte ein neues, eigenständiges Ministerium – ein "Flüchtlings-/Integrations-/Migrations- und Entwicklungszusammenarbeits-Ministerium" (BMfFIME) – geschaffen werden, das alle diese untereinander verzahnten Bereiche abdeckt. Es sollte auf Basis einer öffentlichen Ausschreibung samt Hearing unter Einbeziehung relevanter NGOs von einem Experten oder einer Expertin geleitet werden, der/die als erste Maßnahme eine Effizienzanalyse der derzeitigen Abläufe in Auftrag gibt.

2) Nach wie vor haben Asylsuchende keinen effektiven Zugang zum Arbeitsmarkt und sind zur Untätigkeit verdammt. Der von 30.000 Menschen und 300 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnete "Aufruf für eine menschliche Flüchtlingspolitik" wurde von Ministerien und Parlament weitgehend ignoriert. Nun sollen Familienzusammenführungen (und damit legale Wege der Zuwanderung) durch eine neuerliche Asylrechtsverschärfung weiter erschwert werden. Sinnvoller wäre es, den Asylsuchenden stattdessen ihr Leben in Österreich zu erleichtern.

3) So wie bei der Aktien und derivate Produkte betreffenden Transaktionssteuer für Investmentbanken soll sich der Bundeskanzler sowohl im EU-Rat der Staats- und Regierungschefs wie in der Uno dafür einsetzen, dass die oben vorgeschlagene Sondersteuer von zehn Prozent der Liefersumme für alle Rüstungs- und Waffenexporte eingehoben wird. Diese soll in Europa in das Budget der EU-Kommission einfließen, die wiederum diese Beträge zweckgewidmet an EU-Länder weiterleitet, entsprechend der Anzahl der von ihnen tatsächlich aufgenommenen Flüchtlinge. Es würde damit ein monetäres Anreizsystem zur Flüchtlingsaufnahme – statt einer verpflichtenden Quote – etabliert werden.

4) Darüber hinaus sollte auch ein Malus-System eingeführt werden, das jene Länder über die Kürzung von Zuwendungen aus dem EU-Budget pönalisiert, die ihre rechnerische "Quote" nicht erfüllen. In die Berechnung dieser Quote sollen Einwohnerzahl und BIP/Kopf einfließen, nicht aber (wie vielfach vorgeschlagen) die Arbeitslosenquote, denn Letztere stempelt die Flüchtlinge zu Feindbildern aller Arbeitssuchenden.

So würden sich zum Beispiel folgende Quoten ergeben: Frankreich (14,3 Prozent), Großbritannien (13,6 Prozent), Tschechien (1,1 Prozent) und Schweiz (3,4 Prozent). Bezogen auf jeweils eine Million Flüchtlinge würde dies für Frankreich die Aufnahme von 145.000, für Großbritannien von 140.000, für Tschechien von 11.000 und für die Schweiz von 35.000 Flüchtlingen bedeuten.

Keine "wirklich menschliche" Flüchtlingspolitik

Alle diese Szenarien können den Binnenflüchtlingen in Amude in Nordsyrien nicht helfen, denn sie brauchen jetzt Hilfe. Aber die internationale Staatengemeinschaft und insbesondere Europa kann entscheidend dazu beitragen, dass es in Zukunft weniger Binnenflüchtlinge wie jene in Amude gibt.

Das offizielle Österreich hat in der Vergangenheit bei Flüchtlingskatastrophen (Ungarn, Tschechoslowakei, Bosnien-Herzegowina) Größe gezeigt. Heute kann sich das Land – in der Summe seiner Maßnahmen und Gesetzesbestimmungen – in seiner Flüchtlingspolitik nicht mit dem Prädikat "wirklich menschlich" rühmen. Viele Österreicherinnen und Österreicher – auch ich – möchten in einem Land leben, auf das wir wieder stolz sein können. Ohne die Politik und insbesondere ihre höchsten Repräsentanten wird dies aber nicht möglich sein. Deren Überzeugungsarbeit gegenüber der Bevölkerung ist schwierig, aber ohne diesen Einsatz ist in einer Demokratie keine Veränderung möglich. Von deren Notwendigkeit müssen sie aber zuerst selber überzeugt sein. (Ernst Löschner, 4.1.2016)