Der Angriff auf Soldaten in Valence wird vom französischen Staatsanwalt als Einzeltat eines Verwirrten gewertet.

Foto: APA/AFP/Gardin

Das Jahr 2016 ist erst wenige Tage alt, doch schon ist klar, dass die beiden großen Themen, die Europa im vergangenen Jahr beschäftigt haben, nahtlos ihre Fortsetzung finden: die Flüchtlingskrise und die Terrorbedrohung. Die Ereignisse am Persischen Golf machen deutlich, dass die Kriege in Syrien und dem Jemen, die nur mit der Zusammenarbeit von Saudi-Arabien und dem Iran beendet werden könnten, ungebremst weitergehen werden. Damit werden im neuen Jahr auch die Flüchtlingsströme nach Europa weiter zunehmen, anstatt abzuebben.

München beging den Jahreswechsel nach einer Terrorwarnung mit verschärften Sicherheitsvorkehrungen, und in Frankreich, wo der Jahrestag des Anschlags auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" bevorsteht, fuhr in der Stadt Valence ein Mann mit seinem Auto in eine Gruppe Soldaten vor einer Moschee. Obwohl der Fahrer angab, dass er wegen des französischen Militäreinsatzes in Syrien Soldaten töten wollte, dabei "Gott ist groß" rief und auf seinem Computer islamistische Propaganda hatte, ordnet die französische Staatsanwaltschaft den Vorfall nicht als Terroranschlag ein, weil der Täter nicht in einer Terrororganisation vernetzt und zwar gläubiger Muslim, aber nicht als Islamist aufgefallen sei.

Schnelle Radikalisierung

Das wirft einerseits Fragen nach der Definition des Begriffs "Terrorismus" auf, andererseits zeigt dieser Fall, dass Radikalisierung ein Prozess ist, der nicht sichtbar ablaufen muss und auch sehr rasch geschehen kann. Dies war auch schon bei einzelnen Beteiligten der Anschläge in Paris im November der Fall. Offensichtlich ist es den Behörden nicht möglich, die extremistischen Szenen ausreichend zu beobachten, einen lückenlosen Überwachungsstaat kann auch niemand ernsthaft wünschen. Mit einer latenten Bedrohung muss die europäische Bevölkerung also zu leben lernen.

Falsch verstandene Toleranz

Sorgen bereitet jedoch die weitverbreitete Tendenz, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu unterspielen. Ein falsch verstandener Toleranzbegriff behindert weitgehend die notwendige Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen Strömungen, konterkariert die Integrationsbemühungen und gefährdet so unsere westliche Freiheit. Überzogenes Verständnis für religiöse oder kulturelle Sensibilitäten stärkt am Ende nur die extreme Rechte, die mittlerweile im Großteil der EU-Mitgliedsstaaten in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Fehlende Antworten

Die Politik ist bisher sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene die Antworten schuldig geblieben, wie mit diesen Herausforderungen adäquat umgegangen werden soll. Doch die Unfähigkeit, brauchbare Lösungen zu finden, gefährdet den sozialen Frieden und die Stabilität der Union. Ohne Konzepte auf gesamteuropäischer Ebene wird es nicht funktionieren, Millionen Flüchtlinge in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu integrieren, wenn dies überhaupt möglich sein sollte. Doch wohin ein Sich-selbst-Überlassen der Einwanderer spätestens in der zweiten Generation führt, das zeigt ein Blick in die Banlieues: Arbeits- und Perspektivenlosigkeit sind die Quelle von Kriminalität und Radikalisierung. Diese Lektion müssen die europäischen Regierungen lernen, und zwar rasch.

Scheindebatten

Stattdessen verlieren sich die politisch Verantwortlichen ebenso wie die Medien und die Gesellschaft in Scheindebatten über Obergrenzen von Asylanträgen, die richtige Benennung eines aus Löchern bestehenden Zaunes und sogar darüber, ob ein Supermarkt entscheiden darf, kein geschächtetes Fleisch mehr zu verkaufen. Anstatt über Sprachregelungen für angeblich problematische Wörter mit den Endsilben "-ling" und "-ant" zu streiten, muss endlich der Mut aufgebracht werden, die Dinge beim Namen zu nennen – nur so wird man zu den dringend notwendigen Lösungen kommen. (Michael Vosatka, 5.1.2016)