Unterbrechung einer heillosen Kontinuität in der Intensität des Augenblicks: Wenn es für die Frauenfiguren von Marlene Streeruwitz so etwas wie einen utopischen Horizont gibt, liegt er nicht in zeitlicher oder räumlicher Ferne, sondern im Hier und Jetzt einer unverstellt eigenen Erfahrung.

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In Marlene Streeruwitz' erstem Roman Verführungen. (1996) erinnert sich die Protagonistin Helene Gebhardt an ihre Kindheit. Sie sieht sich zurückversetzt in die Volksschule, und besonders gegenwärtig sind ihr Kinderzeichnungen von Schneemännern. "Jeder Schneemann hatte eine Karotte als Nase. Jede Karotte ragte nach links." Ein anderer Erinnerungssplitter zeigt sie bei eigenen Zeichenversuchen.

Helene fällt ein, "wie sie als kleines Mädchen im Kindergarten die Sonne auf ihren Zeichnungen in der Mitte gemalt hatte. Sie konnte den Finger auf ihrem Zeichenblatt noch sehen, wie die Nonne ihr bedeutet hatte, die Sonne in die Ecke zu zeichnen. Von da an hatte sie die Sonne in die linke obere Ecke der Zeichenblätter gedrängt. Die Sonne schien nur mehr schräg von links. Sie hatte es richtig machen wollen."

Den Kindheitsepisoden kommt exemplarische Bedeutung zu. Linksgerichtete Karotten und Sonnen am Rand erscheinen als Ausdruck einer unverrückbaren Zeichenordnung, Kindergarten und Volksschule als Korrekturanstalten, die über die Einhaltung dieser Ordnung wachen. Was richtig und falsch ist, ist da immer schon vorgegeben, ein eigener, abweichender Ausdruck nicht zugelassen. Dass dieser eigene Ausdruck vor allem Frauen verwehrt bleibt, ist der Skandal, auf den das Werk von Marlene Streeruwitz reagiert.

Im Mittelpunkt dieses Werks, das Dramen, Prosatexte, Romane, Hörspiele, Essays, politische Stellungnahmen und Collagen umfasst, stehen vielfach Frauen, die beschränkt sind in ihren Artikulationsmöglichkeiten. Die keine Sprache vorfinden, um ihre Lebensumstände, Gefühle und Befindlichkeiten angemessen auszudrücken.

In einer autobiografischen Reminiszenz macht Streeruwitz deutlich, dass derlei Sprachlosigkeit selbst den Zugang zum eigenen Körper verstellt: "Zuerst einmal ist es der. Der Körper. Der Leib. Seit ich mich erinnern kann. Und dieses Erinnern reicht so in das Jahr 1953 zurück. Ein bisschen früher. Ein bisschen später. Seit ich mich erinnern kann, war mein Körper der Körper. War mein Leib der Leib. Und war durch dieses ,er', durch dieses ,der' von mir abgetrennt. Eines war nämlich immer klar. Ich war ein Mädchen."

Der gelenkte Blick

Aus der Feststellung erwächst kein Selbstbewusstsein, denn die Sprache schreibt eine andere Existenz vor. Im sprachlichen Zugriff auf den weiblichen Körper steckt der Keim zu einem fremdbestimmten Dasein: " ,Er' musste schlafengehen. ,Er' musste essen. Aufessen, was auf den Teller gekommen. ,Er' musste mittagschlafen. Zu seiner Gesundheit. Und damit ,er' gross und stark werde."

Das Beispiel zeigt, dass der Sprache das Diktat einer Lebensordnung eingelagert ist. Bestimmend für das Werk von Marlene Streeruwitz ist die Einsicht, dass sich diese Lebensordnung einem genuin männlichen Blick auf die Welt verdankt. Wer spricht, wird immer schon gelenkt von diesem Blick. Letztlich nistet in Wörtern und Zeichen, oft unbemerkt, ein totalitärer, patriarchaler Machtanspruch, der das selbstbestimmte Sprechen von Frauen ausschließt. Ihr Blick soll abgeleitet bleiben vom männlichen Blick, ihre Sprache blind für die Artikulation eigener Erfahrungen.

So etwa lautet, verkürzend zusammengefasst, der triste Befund, von dem Marlene Streeruwitz ausgeht. Sie entfaltet ihn im Detail und höchst differenziert in theoretischen Schriften, in Poetikvorlesungen und Essays, und legt ihn andererseits den Geschichten ihres dramatischen und erzählerischen Werks zugrunde. Vordergründig dominiert in diesen Geschichten die Aussichtslosigkeit des Befunds. Sie kreisen um Frauenfiguren, die im Bann des männlichen Blicks und seiner sprachlichen Regulative stehen.

Gemessen an den Möglichkeiten, die sich Männern bieten, erscheinen diese Frauenfiguren abhängig, ohnmächtig und sprachlos. Zu den wiederkehrenden Mustern ihrer defizitären Existenz gehören nicht zufällig das Weinen und das Warten.

In Lisa's Liebe. (1997), einem Text, der die Ästhetik des Groschenromans aufgreift und ad absurdum führt, wartet die Protagonistin einen Sommer lang, dass ihr Liebesbrief beantwortet wird. Helene in Verführungen. wartet auf die Anrufe ihres wankelmütigen Geliebten, bis sie das Gefühl hat, vom Warten geradezu "ausgehöhlt zu sein".

Und Margarethe im Roman Nachwelt. (1999) wird gewahr, wie sich beim Warten auf "ihn" die Würde verbraucht: "Beim Warten riss die verlorene Zeit alles mit sich." Das betrifft naturgemäß auch die Sprache und das Sprechen. Die Versagung, die im Warten beschlossen liegt, krümmt den Ausdruck nach innen, wo lautlos wütet, was sich anders nicht artikulieren kann.

Nicht stumm wie das Ungesagte, aber auf andere Weise sprachlos ist auch das Weinen. Es dringt zwar nach draußen, wird sicht- und hörbar, bricht sich manchmal Bahn in Schluchzen oder Schreien, bleibt letztlich aber vorsprachlicher Ausdruck von Hilflosigkeit.

Viel weinen

Es wird viel geweint im Werk von Marlene Streeruwitz, und dabei tritt ein Paradox zutage, das schon die Sprachkrise des Lord Chandos bei Hugo von Hofmannsthal kennzeichnet: dass Chandos die Worte wie Pilze im Mund zerfallen, hindert seinen Erfinder nicht, diesen prekären Zustand mit höchster Kunstfertigkeit zur Darstellung zu bringen. Ähnliches leistet Streeruwitz bei der Beschreibung des Weinens.

Die Sprachnot, die dem Weinen innewohnt, wird erst richtig fassbar, weil sie aufs Eindringlichste und Genaueste zur Sprache kommt. Diese Eindringlichkeit schließt dann zum Beispiel auch die schmerzliche Komik ein, mit der Streeruwitz die Wirkungslosigkeit des Weinens vor Augen führt: "Helene begann zu weinen", heißt es in Verführungen.: "Eine Welle Elend rollte vom Bauch durch die Brust hinter die Augen. Die Tränen rannen. Pressten sich zwischen den Lidern hervor, und das Schluchzen folgte. Schüttelte sie in heftigen Stößen. Sie wollte ihn haben. Sie wollte Henryk haben (...) Sie wollte seine Haut gegen ihre Haut haben (...) Sofort. Nach 3 Stunden Weinkrampf war immer noch kein Wunder geschehen. Henryk war nicht herbeigeweint."

In solchem Weinen kulminiert eine Ohnmacht, die Streeruwitz als weiterwirkendes Erbe des Patriarchats begreift. Die Sprachlosigkeit, die damit einhergeht, sei nicht konstitutionell, wie die deutsch-amerikanische Germanistin Dagmar C. G. Lorenz betont, "sondern das Resultat einer systematischen Konditionierung".

Diese Konditionierung ist es, gegen die Marlene Streeruwitz anschreibt. Dazu gehört zum einen, die Wirkweisen dieser Konditionierung, ihr tückisches Einsickern in nahezu alle Lebens- und Sprachordnungen, möglichst präzise und unbestechlich zu registrieren. Das zu betreiben, was Streeruwitz im Gespräch mit dem Essayisten Heinz-Norbert Jocks "Machtarchäologie" nennt.

Dazu gehört aber auch, dem machtvollen Erbe mit einem Gegenentwurf zu begegnen. Bei aller Fremdbestimmtheit, die den Frauenfiguren im Werk von Marlene Streeruwitz eingezeichnet ist, bleiben sie nie auf den reinen Opferstatus beschränkt, sondern setzen Akte der Selbstbefreiung und Selbstermächtigung.

Diese Aufbrüche nehmen sich unspektakulär aus, treten aber gerade dadurch in Gegensatz zur männlichen Form der Weltaneignung. Den bombastischen Begriff Utopie vermeidet Streeruwitz.

Dennoch setzt sie voraus, dass übers Unglück nur schreiben kann, wer etwas vom Glück weiß. Entsprechend zielt ihr Werk immer auch auf die "Wieder- oder Rückeroberung" von Glück. Eines Glücks, das allein schon darin besteht, dass die Enteignung des weiblichen Blicks zumindest ein Stück weit zurückgenommen erscheint und Erfahrungen zur Sprache kommen, die sonst ausgespart bleiben. Da kann dann etwa, indem ausführlich von Regelblutungen, Fehlgeburten oder Mutterschaften die Rede ist, "der" Körper wieder zum Körper der Frau werden, auch wenn dieser Aneignung immer noch die Grammatik entgegensteht.

Dauer des Banalen

Überhaupt ist es der Alltag mit seinen vermeintlichen Banalitäten, in dem Streeruwitz Freiräume aufspürt für die Entfaltung von Glück. "Das Banale hat Dauer, während das Heroische so schnell wie eine Sternschnuppe vergeht", bezieht sie Position. Ihren Niederschlag findet diese Position beispielsweise im Roman Nachkommen., wo die junge Autorin Nelia Fehn, die für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, die herablassende Bemerkung eines Kritikers zu verkraften hat, ihr Erstlingswerk sei "eine hübsche, kleine Odyssee".

Im Widerstand gegen solch vergiftetes Lob beharrt Nelia Fehn auf einem alltagstauglichen weiblichen Heldentum. "Der hatte das wahrscheinlich positiv gemeint", denkt sie für sich. "Immerhin eine Odyssee. Die Grundfesten der Dichtung. Der Hort der Literatur. Des Literarischen. Halt nur hübsch und klein. Aber da war sie selber schuld. Ihre Heldin. Die mordete nicht. Die überlistete nicht. Die segelte nicht von einer Liebschaft zur nächsten. Die war überhaupt ganz anders als so ein klassischer Held. Die wollte leben (...) Die konnte sich Vernichtung nicht vorstellen. Das arme Ding war sanft und treu und wollte zu ihrem Liebsten (nach Athen). Unheldisch war die (...) Sie hatte einen Blumenstock in Athen. Sie teilten sich einen Blumenstock. (...) Das war das Leben. Für sie. Für sie beide. Die Morde. Die Gewalt. Der Terror. Das machen die anderen. Das sollten die anderen machen."

Das Bild von Autorschaft, wie es hier gezeichnet wird, bestimmt das Schreiben von Marlene Streeruwitz nachhaltig und grundlegend. Zur Disposition steht nicht bloß der klassische Held, sondern mit ihm letztlich das ganze Regelwerk literarischer Welterschließung. Auch dessen Normen, Konventionen und Kodierungen gehören zum Erbe des Patriarchats. Wer es aufkündigen und anderen Weltzugängen Geltung verschaffen will, muss Kunstmittel entwickeln, die von diesem Regelwerk abweichen.

So fasst Streeruwitz etwa die Anläufe zur Selbstbefreiung, von denen sie erzählt, durchaus als Entwicklungen, verzichtet aber darauf, das überkommene Narrativ des Entwicklungsromans zu bemühen. Auch den gattungstypischen Blick ins Innenleben ihrer Frauenfiguren verweigert sie.

Stattdessen wird die Topografie zeichenhaft aufgeladen. Was Helene, Lisa oder Margarethe bewegt, ist indirekt ihren Bewegungen im Raum abzulesen. Innenwelt erscheint übersetzt in Außenwelt, und das gilt dann auch für die zarten, zerbrechlichen Vorstellungen von Glück, die in blühenden Blumen, Sträuchern oder Bäumen Gestalt annehmen.

Am auffälligsten manifestiert sich der ästhetische Eigensinn von Marlene Streeruwitz in der Sprache. Die Abweichungen von den Vorgaben der Grammatik sind längst zum Kennzeichen ihrer Werks geworden und verstehen sich als Versuch, gegen die Übermacht sprachlicher Erbschaften einen eigenen, selbstbestimmten Ausdruck zu etablieren.

Zu diesen Abweichungen gehören insbesondere unvollständige, elliptische Sätze und Punkte an Stellen, wo sie die Grammatik nicht vorsieht. Hier nimmt sich Streeruwitz heraus, die Zurichtungen von Kindergarten und Volksschule und alle weiteren Zurichtungen, die ihnen folgen, auf ihre Weise zurechtzurücken: Die Nasen, die einmal keine Karotten sind, weisen vielleicht nach rechts, die Sonne scheint aus der Mitte des Zeichenblatts und der Punkt steht, wo es die Autorin für angebracht hält.

Amputierter Sinn

Streeruwitz weiß, dass derlei Widerständigkeit die Ordnung der Sprache nicht für immer außer Kraft setzen kann. Was sie bewirken will, ist die Unterbrechung einer heillosen Kontinuität. Die Zäsur, die der Punkt setzt, nimmt sich beim Wort, und der elliptische Satz amputiert den Sinn, den die Überlieferung bereithält. Beide Kunstmittel zielen darauf ab, dem Mahlstrom einer programmierten Geschichtlichkeit zu entkommen. Sie wollen Atemräume schaffen, in denen Gegenwart gelebt werden kann, entbunden von den Altlasten patriarchaler Vergangenheit und den falschen Verheißungen einer Zukunft, die diese Vergangenheit unverdrossen fortschreibt.

Im Zeichen solcher Gegenwart steht dann auch das episodische Glück, das sich hin und wieder einstellt. Es beansprucht keine Dauer, sondern erfüllt sich in der Intensität des Augenblicks. Wenn es so etwas gibt wie einen utopischen Horizont für die Frauenfiguren von Marlene Streeruwitz, dann liegt er nicht in räumlicher oder zeitlicher Ferne, sondern im Hier und Jetzt einer unverstellt eigenen Erfahrung.

In diesem Sinn imaginiert Nelia Fehn im Roman Nachkommen. einen Moment der Gemeinsamkeit mit ihrem Geliebten und den Menschen um sie herum: "Welche Zeit auch immer die gerade hatten. Es war jetzt. Was immer die taten. Was immer denen gerade geschah. Sie waren alle in diesem Augenblick gemeinsam. Und dann im nächsten. Und dann wieder."

Von ähnlich augenblickshafter Eindringlichkeit sind auch die Wahrnehmungen blühender Natur. Die Blüte nährt immer schon das Verblühen, und nichts könnte die prekäre Gegenwart des Blühens deutlicher machen als die Düfte, die es zuweilen hervorbringt.

Im Duft fallen Präsenz und Vergänglichkeit in eins, und wenn Selma im Roman Entfernung. unversehens Rosenduft in die Nase steigt, dann bringt Marlene Streeruwitz einen Glücksmoment zur Sprache, der jeder Enteignung widersteht: "Sie atmete den Duft. Den Rosenduft. Der Rosenduft ein solches Wohlgefühl (...) Was für eine Erlösung es war, einen so wunderbaren Duft zu atmen. Sie ging weiter. Drehte sich um. Stellte sich in den Duftschatten und sog den Geruch ein. Und einen Augenblick war es vollkommen gleichgültig, was sie alles nicht wusste (...) Selma atmete Rosenduft. Sie lächelte. Jetzt hatte sie doch noch einen Schatz gefunden." (Gerhard Melzer, Album, 11.1.2016)