"Giga...wer?", wird sich vielleicht der eine oder andere Leser ob der Überschrift fragen. Und in der Tat, bislang ist Gigaset eigentlich für seine klassischen DECT-Schnurlostelefone bekannte Hersteller noch kaum am Radar aufgetaucht, wenn es um mobile, smarte Endgeräte geht. Der letzte und bislang auch einzige Eintrag: Die Vorstellung von eher unspektakulären Tablets vor rund zwei Jahren.

In Anbetracht der sinkenden Nachfrage nach normalen Telefonen wagt sich das deutsche Unternehmen nun unter die Smartphone-Produzenten. Im September stellte man ein Handy-Trio vor: Das Mitteklassegerät Gigaset ME Pure und die beiden Highend-Androiden ME und ME Pro. Dass man damit Größeres vor hat, bewies man spätestens, als man die Geräte durch einen Werbedeal praktisch zu den "Mannschaftssmartphones" des FC Bayern München machte.

Ende 2015 gingen die Geräte nun in Deutschland an den Start, bald sollen sie auch in Österreich verfügbar sein. Der WebStandard hat sich das "mittlere" der drei Modelle, das Gigaset ME, genauer angesehen.

Foto: derStandard.at/Pichler
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Was schnell auffällt: In Sachen Design hat man sich Mühe gegeben. Die Verpackung mit Magnetverschluss und auffällig platzierten In-Ear-Kopfhörern im Inneren, hebt sich durchaus aus der Masse ab. Und während die Vorderseite des Handys selbst noch relativ generisch erscheint, hat man sich für die Rückseite eine durchaus auffällige Designsprache einfallen lassen. Müsste man einen Vergleich ziehen, ließe sich diese als auf Industrial-Look getrimmte Kreuzung aus neueren iPhones und der HTC One-Reihe umschreiben.

Materialtechnisch fährt man ebenfalls auf der Premium-Schiene. Die Vorder- und Rückseite wird von kratzresistentem "Gorilla Glass" bedeckt. Der Rahmen besteht aus Edelstahl, an der Verarbeitung ist nichts zu bemängeln. Das Gerät mit seinem Fünf-Zoll-Display liegt gut in der Hand, ist allerdings etwas rutschig. Die Tasten – Einschalter rechts, zwei separate Lautstärke-Knöpfe links – sitzen gut und wackeln nicht. Die Lautstärke-Kontrollen könnten allerdings etwas niedriger platziert sein, um komfortabel erreichbar zu sein.

Die Rückseite wird von einer 16-MP-Kamera nebst Dualtone-Blitz geziert. Gegenüber des Blitzmoduls wurden ein optischer Pulsermittler und UV-Messer verbaut. Wenige Zentimeter unterhalb der Kamera sitzt außerdem ein Fingerabdruckscanner. Die umfassende Sensorenphalanx ist damit aber noch nicht vollzählig. Auf der Vorderseite sitzt eine 8-MP-Frontkamera. Und gegenüber der Kopfhörerbuchse am oberen Rand hat man außerdem noch einen Infrarot-Transceiver geparkt.

Foto: derStandard.at/Pichler
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Das Full-HD-Display (1.080 x 1.920 Pixel), macht in Sachen Farben, Kontrasten und Helligkeit einen guten Eindruck, muss sich aber hinter den aktuellen Topgeräten von Samsung, LG oder Apple einreihen. Darunter werkt Qualcomms umstrittenes Chip-Flaggschiff aus 2015, der Snapdragon 810, der mit 1,8 GHz unter dem möglichen Maximaltakt läuft. Ihm stehen drei GB RAM zur Verfügung, der Onboardspeicher fasst 32 GB.

Es gibt zwei nano-SIM-Slots – wer nur einen davon benötigt, kann den anderen stattdessen mit einer microSD-Karte bestücken. Zur weiteren Ausstattung gehören ac-WLAN, Bluetooth 4.1 und LTE. NFC sucht man allerdings vergebens. Der nicht austauschbare Akku bringt 3.000 mAh Kapazität und Quickcharge-Kompatibilität mit. Verkabelter Datenaustausch und Aufladung laufen über einen USB 3.0-Port des Typs C.

Eine wichtige Nachricht vorweg: Es gibt kein Überhitzungsproblem beim Gigaset ME. Weder ein dreiviertelstündiger Grafikbenchmark-Marathon, noch zwanzig Minuten intensives Spielen zwangen das Handy in die Knie. Sollte das System jemals aus Temperaturgründen den CPU-Takt gesenkt haben, war dies in Sachen Performance nicht zu bemerken. Die lastbedingte Erwärmung war zwar zu spüren, erreichte aber kein stark unangenehmes Ausmaß.

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Entsprechend souverän meistere das Gigaset-Handy auch die Benchmarkrunde. Etwas mehr als 71.000 Zähler setzte es beim Allround-Test mit Antutu (Version 6.0), was ziemlich genau den Scores des Google Nexus 6 entspricht. Keine Blöße gab sich das Gerät auch bei mehreren 3D-Tests.

Beim Browserbenchmark mit Vellamo und Chrome zieht das ME der Konkurrenz mit etwa 5.100 Punkten davon. Zum Vergleich: Das LG G Flex 2, ebenfalls ein Smartphone mit Snapdragon 810, liegt 1.000 Punkte darunter, das Samsung Galaxy S6 ist mit rund 3.600 Zählern bereits auf Respektabstand. Unterschiede, die in der realen Nutzung des Smartphone-Browsers freilich kaum auffallen dürften.

Die Firmware, die derzeit auf Android 5.1.1 basiert, hat Gigaset gut optimiert. Hier zeigt sich kein Hängen und nur ganz selten wahrnehmbares Mikroruckeln. Die Oberfläche selbst hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Dankenswerterweise verzichtet man auf Hardwaretasten und setzt auf Onscreen-Navigation. Störend ist allerdings der Verzicht auf einen App-Drawer, was man eigentlich hauptsächlich von chinesichen Herstellern gewohnt ist. Der Rest entspricht eigentlich dem gewohnten "Material Design" mit veränderten Farben und Symbolen. Wer mit Android vertraut ist, findet sich flott zurecht.

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Das Standard-Sortiment an Apps wurde teils mit eigenen Apps ersetzt. Der Kontaktmanager bietet eigentlich Gewohntes und kommt lediglich in stark angepasster Optik daher. Die Galerie-App wiederum dürfte von iOS inspiriert sein. Die Alternativen zum Standard-Musik- und Videoplayer scheinen keinen Mehrwert zu bieten.

Nett ist die "Sicherheit"-App, die neben einer Virenprüfung unter anderem über eine potente, wenn auch unübersichtliche Rechteverwaltung für Apps verfügt. Das Programm Telefonservice bringt wiederum einen Selbsttest mit und ermöglicht direkten Kontakt zum Kundenservice. Eine eigene Gesundheitsapp ermöglicht Schrittzählung mit Zielsetzung und das Protokollieren von Puls und UV-Strahlung.

Per "Smart Remote" kann das Handy zur Fernbedienung für diverse Geräte mit Infrarotempfänger genutzt werden. "Contact Push" stellt eine interessante Anbindung an normale Schnurlostelefone dar. Offenbar lassen sich mit dem Handy per WLAN Kontakte auf Gigaset-Mobilteile transferieren.

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Das große Sensor-Sortiment des Gigaset ME ergibt natürlich nur dann Sinn, wenn es auch echten Mehrwert bringt. Der Fingerabdrucksensor erlaubt etwa eine schnelle Entsperrung des Bildschirms und das Absichern von wichtigen Einstellungen. Zumindest in der Theorie, denn in der Praxis widersetzt er sich gelegentlich einer ordnungsgemäßen Erkennung eingespeicherter Finger – geschätzt in etwa einem von vier bis fünf Entsperrversuchen. Etwas mühsam ist auch die Herzfrequenzmessung. Hier muss der Finger schon recht genau platziert werden – und selbst dann treten bei kurz hintereinander getätigten Messungen teils erhebliche Schwankungen von über zehn Schlägen pro Minute auf.

Brav arbeitet hingegen der UV-Sensor, über dessen Genauigkeit in Ermangelung eines alternativen Messgeräts jedoch nicht viel gesagt werden kann. Zu Mittag meldet er jedenfalls erhöhten UV-Lichtanteil, am Nachmittag Normalwerte. Der LED-Zimmerlampe bescheinigt er des Nachts eine "geringe" Belastung an gefährlicher ultravioletter Strahlung, was insgesamt plausibel klingt.

Das Infrarotmodul wurde mit einem Medion-Fernseher getestet. Nach Voreinstellung der Marke klappte auch die Übermittlung fast aller Befehle. Lediglich das Hochschalten der Programmkanäle wollte nicht gelingen, in die Gegenrichtung kooperierte das TV-Gerät allerdings.

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Ein Kritikpunkt in einigen Tests deutscher Pressekollegen war die Kamera, die für die Autoren unter den Erwartungen performte. Zwischenzeitlich – die Buildnummer verrät als Datum der Fertigstellung den 14. Dezember – hat Gigaset ein Firmware-Update nachgelegt. Und es besteht Grund, Entwarnung zu geben.

Solange Tageslicht vorherrscht, lassen sich mit dem Gigaset ME hervorragende Bilder schießen. Wenngleich die Kamera meist einen Tick langsamer reagiert als etwa jene des LG G4, liegt man mit der Fotoqualität ziemlich nahe an den Topmodellen. Die Detailwiedergabe gelingt gut und der Bokeh-Effekt bei Nahaufnahmen kann beeindrucken. Laut Spezifikationen kann die Kamera auf bis zu fünf Zentimeter scharfstellen.

Allerdings sind auch Schwächen zu vermelden. Etwas zu empfindlich reagiert die Kamera auf Gegenlicht, sowohl was Lensflare-Effekt angeht, als auch die dann etwas verwaschenen Farben. Der Weißabgleich neigt außerdem in manchen Situationen zur Übersteuerung. Schwindet das Licht, dauert die Aufnahme merklich länger. Die Resultate, abseits von Nightshots mit Blitz, fallen aber immer noch überdurchschnittlich aus. Selbiges lässt sich, ganz generell, auch von der Frontkamera behaupten.

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Gigaset bewirbt das Gerät mit hoher Sound- und Sprachqualität. Nutzt man den unterseitigen Lautsprecher, bietet sich ein für ein Smartphone absolut akzeptables Hörerlebnis. Der Schalldruck reicht auf jeden Fall aus, um einen kleinen Raum bei einer gemütlichen Partyrunde zu bespielen. An Sound-Spitzenreiter HTC und seine frontseitigen Boomsound-Lautsprecher kommt man allerdings nicht heran.

Genießen lässt sich Musikwiedergabe aber über die Audioklinke. Das liegt nicht nur an der softwareseitigen Optimierung durch Dirac HD, sondern auch am beigelegten In-Ear-Headset, das von guter Qualität ist.

In Sachen Telefonie und mobilem Internet punktet das Handy mit gutem Empfang. Auch die integrierten Mikrofone verrichten laut Gesprächspartnern ihre Arbeit gut. Das jeweilige Gegenüber ist prinzipiell ebenfalls gut verständlich, klingt allerdings tendenziell ein wenig blechern.

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Ein Schwachpunkt ist allerdings der WLAN-Empfang, wo offenbar beim Design der Antenne oder des Gehäuses etwas schief gelaufen ist. Die Verbindung zum Wifi-Router ist im Vergleich zu anderen Smartphones eher schwach und hängt stark von der Ausrichtung des Smartphones ab. Fallweise fühlt man sich ein wenig an das "Antennagate" des iPhone 4 erinnert, wenngleich die Konsequenzen hier nicht gar so drastisch sind.

Womit eigentlich nur noch eine Bewertung der Akkulaufzeit übrig bleibt. Bis zu 273 Stunden im Dual-SIM und 361 Stunden um Single-SIM-Betrieb soll die Batterie im Standby-Modus durchhalten oder alternativ 34 Stunden an Audiokonsum bewältigen. Erstere Angaben scheinen etwas hoch gegriffen, mehr als eine Woche im Wartemodus erscheint aber durchaus realistisch.

Bei normaler Nutzung sollte man bei voller Ladung mit Reserven von 20 bis 40 Prozent vom Morgen bis in den frühen Abend kommen. Selbst für Poweruser sollte die Akkuladung auf jeden Fall für einen Tag reichen. Somit bewegt sich das Gigaset ME hier gefühlsmäßig auf überdurchschnittlichem Level.

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Fazit

Das Gigaset ME ist eine Überraschung, die großteils positiv ausfällt. Dass eine um den Appdrawer beschnittene Oberfläche, ein störrischer Fingerabdrucksensor und schwacher WLAN-Empfang die Hauptkritikpunkte darstellen, das Handy aber sonst in allen Belangen eine gute Figur abgibt, ist für einen Newcomer nicht selbstverständlich. Erstmals seit langem itest damit wieder ein gelungenes Highend-Smartphone aus Europa am Markt.

In weiten Teilen spielt das Telefon beinahe in der Liga von Samsung, LG und Konsorten. Das gilt jedoch auch für den Preis. Mit 469 Euro liegt dieser mittlerweile auf dem Niveau der günstigsten Händlerangebote für das Galaxy S6 und knapp über dem Straßenpreis des LG G4. Das ist für eine auf dem Markt noch nicht etablierte Firma freilich riskant.

Dem kontert Gigaset mit der wohl umfassendsten Feature- und Sensorausstattung, die man aktuell in einem Smartphone findet – sofern man das Fehlen einer NFC-Antenne verkraften kann. Abseits der möglichen Speichererweiterung, die auch das G4 bietet, ist auch der DualSIM-Support einzigartig. Zwar gibt es auch vom S6 und G4 entsprechende Varianten, diese sind aber in Europa nicht erhältlich und müssten teuer importiert werden.

Das Debüt für Gigaset am Smartphonemarkt lässt sich jedenfalls, was das ME-Modell betrifft, als gelungen bezeichnen. Ob es das auch in kommerzieller Hinsicht ist, wird das Unternehmen in den kommenden Monaten anhand der Absatzzahlen selber abwägen müssen. (Georg Pichler, 24.01.2016)

Kamera-Testbilder

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