
Jewgeni Wutschetitschs Hochrelief "Ruhm dem Sowjetvolk!" und drei weitere Skulpturen des sowjetischen Bildhauers (1908–1974), darunter ganz rechts ein Entwurf für das Denkmal im Treptower Park in Berlin.
Bei der Moskauer Kunstbiennale im Herbst war der imposante Zentralpavillon auf dem Areal der "Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft" (WDNCh) noch Tummelplatz für renommierte Künstler aus aller Welt. Lediglich im Hintergrund hatten damals Restaurateure an Jewgeni Wutschetitschs Hochrelief Ruhm dem Sowjetvolk! (1950–53) gefeilt.
Jetzt ist die zeitgenössische Kunst ausgezogen, und Wutschetitschs restauriertes Relief dient nun als Schlüsselwerk von Die Künstler des WDNCh. Eine symptomatische Schau, als deren Ausgangspunkt Arbeiten von Bildhauern und Malern fungieren, die 1939 vom damaligen Kurator El Lissitzky zur Eröffnung des Areals engagiert worden waren. Lissitzky selbst, als Plakatkünstler ein herausragender Vertreter der Avantgarde, ist nicht vertreten. Bis März präsentiert die Ausstellung ausschließlich Sozialistischen Realismus, eine aus russischen realistischen Maltraditionen entwickelte Richtung, die ab Mitte der 1930er-Jahre das Heldentum des Sowjetvolkes beim Aufbau des Sozialismus illustrieren sollte.
Wendung zur Staatsästhetik
Für avantgardistische Experimente war es damals in der UdSSR eng geworden – auch aus Angst vor Repressionen wandten sich viele Künstler der vom Staat geforderten Ästhetik zu. "Aufgrund von Lebensumständen ist der Vertreter der russischen Avantgarde Georgi Rubljow als sozrealistischer Grafiker bekannt geworden", schreiben die aktuellen Kuratoren verharmlosend über einen der präsentierten Künstler. Negative Einschätzungen zum Stalinismus fehlen.
Die Ausstellung selbst kann freilich mit Werken sowjetischer Kunstpromis aufwarten, darunter Dmitri Nalbandjans Vorzeigebauarbeiter beim Aufbau von Jerewan, ein Gruppenporträt Alexander Dejnekas mit Stachanow-Arbeiterhelden oder Skulpturen des fünffachen Stalin-Preisträgers Wutschetitsch, der international für das Ehrenmal in Berlins Treptower Park bekannt ist.
Keine Zeit für Nachforschung
Gleichzeitig verzichtet die Schau auf Details zu den Auftragsarbeiten von 1939. Die Originale gelten als verloren, für das Aufspüren von Entwürfen fehlte die Zeit gleich wie für kunsthistorische Forschungen, die aber ohnehin nicht gefragt zu sein scheinen. Wichtiger war, dass die Schau innerhalb weniger Monate auf die Beine gestellt werden konnte. Zumal das im Eigentum der Stadt Moskau stehende WNDCh-Areal im Dezember für eine wichtige Aufgabe auserkoren wurde, die auf den politisch derzeit angesagten Stolz auf die große Vergangenheit des großen Russlands verweist: Ausgerechnet dieses "8. Weltwunder" der Stalin-Zeit wird 2016 Hauptthema des russischen Beitrags auf der Architekturbiennale in Venedig sein.
Die Künstler des WDNCh ist in letzter Zeit nicht die einzige unkritische Präsentation stalinistischer Kunst. Im November lief in der Moskauer Manege gleichzeitig mit einer Multimediaschau zur Geschichte Russlands zwischen 1914 und 1945 bereits Romantischer Realismus. Sowjetische Malerei 1925–1945. Der russisch-orthodoxe Bischof und mutmaßliche Wladimir-Putin-Seelsorger Tichon hatte sich als Kurator des Geschichtsprojekts, so wird kolportiert, eine "schöne" und "ausreichend patriotische" Ausstellung jener Periode gewünscht.
Affirmative Retrospektive im Eiltempo
Zur Hand ging niemand Geringerer als die Direktorin der staatlichen Tretjakow-Galerie, der größten Kunstinstitution Moskaus: Semfira Tregulowa. Sie stampfte im Eiltempo eine affirmative Retrospektive aus dem Boden, die sich inhaltlich mit zentralen Sujets des Sozrealismus beschäftigte, etwa dem "Neuen Menschen" oder "Territorien des Glücks". Weniger romantische Aspekte des Totalitarismus blieben freilich ausgeblendet. "Inhalt, Konzeption und Sinn der Ausstellung können nur mit ethischer und ästhetischer Blindheit erklärt werden", schrieb der liberale Kunstkritiker Walentin Djakonow in der Tageszeitung Kommersant.
Das Publikum blieb von der Kritik unbeeindruckt: Bei freiem Eintritt kamen fast 200.000 Besucher innerhalb eines Monats. Dass es in Russland eine Sehnsucht auch nach Kunst der Stalin-Zeit gibt, illustriert noch eine Schau zeitgenössischer russischer Malerei in St. Petersburg: Während Kunstkritiker bei Russland. Realismus. im Russischen Museum eine fragwürdige Anbiederung an die politische Konjunktur betonten und eine schlechte Qualität der Gemälde beklagten, vermitteln die Eintragungen im Gästebuch einen anderen Eindruck: Realismus wird von vielen Besuchen gutgeheißen, kritisiert wird an der Schau jedoch ein Mangel an lebensbejahenden Sujets, durch die sich etwa der Sozialistische Realismus auszeichnen würde.
Kein Problem mit Zensur
Aber nicht nur sowjetische Ästhetiken werden derzeit in den Vordergrund gerückt. Auch das Verhältnis von Künstler und Staat könnte bald wieder nach alten Mustern geregelt werden. Kreml-Berater fordern etwa die Einführung eines kulturpolitischen "Koordinierungszentrums", das an die seinerzeit allmächtige Kulturabteilung des KP-Zentralkomitees erinnert. Bei einem Treffen von Präsident Wladimir Putin mit Kulturbürokraten wurde Ende Dezember kein Hehl daraus gemacht, dass ein solches "Zentrum" zu Zensur führen dürfte. Putins Umfeld sieht darin kein Problem: Selbst die strenge sowjetische Zensur, sagte Tichon zum Präsidenten, habe lediglich in zwei Fällen die Veröffentlichung von wahrhaft herausragender Literatur verhindert. Er nannte Wenedikt Jerofejews Poem Moskau–Petuschki und Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag. In Putins Gegenwart blieb diese äußerst fragwürdige Einschätzung unwidersprochen. (Herwig G. Höller aus Moskau, 11.1.2016)