Vor der Schule im südfranzösischen Marseille, deren Lehrer angegriffen wurde, trägt man weiterhin die Kippa.

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Der jüdische Lehrer war zur Schule unterwegs, als er in seinem Rücken einen Schlag spürte. Offenbar von der stumpfen Seite einer 40 Zentimeter langen Machete getroffen, fiel er zu Boden und musste sich gegen den Angreifer wehren. Nur dem Eingreifen von Passanten hatte er es zu verdanken, dass er mit oberflächlichen Wunden davonkam. Der flüchtende Täter wurde Minuten später von der Polizei gefasst.

Der Vorfall ereignete sich nicht in Israel, sondern in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille, wo viele Immigranten aus Nordafrika mit arabischer wie jüdischer Herkunft leben. Bestürzung lösten zwei zusätzliche Umstände aus. Zum einen ist der Täter erst 15 Jahre alt und geht noch zur Schule. Türkisch-kurdischer Abstammung, scheint er zudem nicht etwa psychisch instabil sein, wie es bei mehreren Spontanangreifern der letzten Tage und Wochen in Frankreich der Fall war.

Der Mittelschüler erklärte in der Untersuchungshaft, er sei "stolz" auf seine Tat und schäme sich nur, dass er den Lehrer nicht getötet habe. Als Motiv nannte er "Allah" und "die Terrormiliz IS". Er soll sich allein radikalisiert haben, ohne Beziehungen zu Jihadkreisen zu pflegen. Das Strafverfahren lautet auf Mordversuch "wegen religiöser Zugehörigkeit in Verbindung mit einer terroristischen Unternehmung".

"Bedrohung wird real"

Für die jüdische Gemeinde Frankreichs – mit rund einer halben Million die drittgrößte der Welt – ist der Anschlag der letzte Beweis, dass "die Bedrohung real wird", wie ein Pariser Vertreter meinte. Die Geiselnahme im jüdischen Supermarkt nach dem "Charlie Hebdo"-Anschlag vor einem Jahr war keineswegs die einzige antisemitische Tat gewesen. Am Dienstag wurde in einem Pariser Vorort ein jüdischer Gemeinderat tot in seiner Wohnung aufgefunden. Da Geld und Auto fehlen, geht die Polizei nicht von einem antisemitischen Motiv aus. 2014 war im gleichen Ort ein jüdisches Paar zu Hause überfallen worden, "weil Juden Geld haben", wie ein Täter zu Protokoll gab.

Der Vorsteher des israelitischen Konsistoriums von Marseille, Zvi Ammar, löste am Dienstag eine heftige Debatte aus, als er vom Tragen der Kippa in Frankreich abriet, bis wieder "bessere Tage" einkehrten. Diese Aufforderung bereite ihm zwar Bauchschmerzen, erklärte Ammar, denn sie bedeute: "Wir müssen uns ein wenig verstecken". Doch sei "das Leben heiliger als andere Kriterien".

Stimmen gegen Verzicht

Zahlreiche Stimmen verwahrten sich vehement gegen diesen Aufruf. "Wir dürfen nicht weichen, wir müssen die Kippa weiter tragen", meinte der Rabbi von Marseille, Haïm Korsia. Auch der Vorsteher des jüdischen Dachrates Crif, Roger Cukierman wehrt sich gegen eine "defätistische Haltung des Verzichts". Der französische Premierminister Manuel Valls sagte der jüdischen Gemeinschaft Solidarität und Schutz zu. Zur Kippa-Frage waren die offiziellen Reaktionen allerdings uneinheitlich. Justizministerin Christiane Taubira meinte, jüdische Männer müssten "natürlich" ihre traditionelle Kopfbedeckung weiter tragen. Regierungssprecher Stéphane Le Foll betonte hingegen, dazu habe sich der laizistische Staat nicht auszusprechen.

Der angegriffene Lehrer verließ das Krankenhaus mit einer Baseballmütze. Laut seiner Frau ermutige er seine Gemeinschaft, es ihm gleichzutun. (Stefan Brändle aus Paris, 14.1.2016)