Wir werden wieder aufbauen, wir werden uns erholen, die USA werden dadurch stärker werden, als sie es je waren" – das war Ende Februar 2009 die zentrale Botschaft des frisch angelobten Präsidenten in seiner ersten Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses. Nun, in seiner letzten State-of-the-Union-Speech, hätte Barack Obama auf dieser Basis Bilanz ziehen können über die vergangenen Jahre. Und diese Bilanz, sie wäre objektiv nicht schlecht ausgefallen. Dennoch zog es der Präsident vor, die Sache anders anzulegen – weil ein politischer Saldo 373 Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Weißen Haus doch etwas verfrüht gebildet wäre und in den Vereinigten Staaten alles andere als eine Stimmung nüchternen Abrechnens herrscht.

Dass die Arbeitslosigkeit derzeit bei fünf Prozent liegt, nach der Krise Millionen Jobs geschaffen wurden, 17 Millionen Menschen von Obamas Gesundheitsreform profitieren, der Präsident viel für die Umwelt (nicht nur das Klima) getan hat, die USA aus außenpolitischen Abenteuern zurückgezogen, keine neuen begonnen und mit der Welt einiges zusammengebracht hat (Iran, Kuba) – das alles zählt nicht, denn die Amerikaner sind missmutig, ja, zornig. Und dieser Zorn lässt sich durch vernünftiges Abwägen schlechterdings nicht verflüchtigen.

Deshalb griff Obama einmal mehr zu jener erhebenden Rhetorik, mit der er seinerzeit in den "Hope and Change"-Tagen seines ersten Wahlkampfs eine positive Vision für die Vereinigten Staaten zu zeichnen versuchte: "Die USA sind die mächtigste Nation der Welt. Punkt." Gerichtet waren Sätze wie dieser an die Bannerträger des allgemeinen politischen Missvergnügens aufseiten der republikanischen Vorwahlkämpfer und insbesondere an – den nie explizit erwähnten – Donald Trump. Allerdings musste der Präsident selbst dann auch einräumen, dass er es bedauere, die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager nicht überwunden zu haben.

Tatsächlich hat das politische Ressentiment in Washington zugenommen. Amerika ist eine zornige Nation. Das Land ist in eine Art digitalisierten politischen Tribalismus verfallen, in dem sich – zwischen all der Wut auf das andere – kein gemeinsamer Grund mehr für gesellschaftliche Kompromisse finden lässt. Stimmen aus den Universitäten warnen bereits, dass in den Vereinigten Staaten die Rückkehr der "Identitätspolitik" zu beobachten sei, in der sich die institutionellen Strukturen der auf (ökonomischen) Ausgleich ausgerichteten modernen Staaten zusehends auflösten. Überspitzt formuliert: Zwischen politischen Debatten in den USA und jenen etwa im Nahen Osten gibt es strukturell eine gewisse Ähnlichkeit.

Anzunehmen, dass Obamas Botschaft an die zornige Nation dies auch nur im Entferntesten ändern könnte, wäre naiv. Sollte dennoch jemand daran glauben, wird ihn der weitere Verlauf des Wahlkampfs eines Besseren belehren. (Christoph Prantner, 13.1.2016)