
1,5 Tonnen Sprengstoff soll die Untergrundarmee PKK für den Anschlag auf eine Polizeiwache in Çinar (Provinz Diyarbakir) und ein Wohngebäude der Familien der Polizisten verwendet haben.
Wer ist der größere Feind – die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) oder die kurdische Untergrundarmee PKK? Setzt die Regierung die richtigen Prioritäten oder hat sie sich verrannt? Das sind die Fragen, die in der Türkei nach dem Selbstmordanschlag auf dem Sultanahmet-Platz in Istanbul noch nachdringlicher gestellt werden.
Ein Bombenanschlag der Kurdistan-Arbeiterpartei (PKK) auf eine Polizeiwache und ein Wohngebäude mit einem enorm großen Sprengsatz in der Nacht zu Donnerstag hat den Streit über die richtige Terrorbekämpfung dabei noch verschärft. Unter den sechs Toten in Çinar in der Provinz Diyarbakir waren zwei Kinder und ein fünf Monate altes Baby. Die Türkei werde ihren Kampf gegen jede Art von Terrorismus fortsetzen, schwor Regierungschef Ahmet Davutoglu am Donnerstag.
Artillerie gegen IS
Der türkische Premier gab an anderer Stelle auch an, die Armee habe in den 48 Stunden nach dem Anschlag in Istanbul am Dienstagvormittag rund 500 Schüsse auf Ziele des IS im Irak und in Syrien abgegeben. Dabei seien 200 Kämpfer der Terrormiliz ausgeschaltet worden, behauptete Davutoglu.
Die türkische Armee habe von ihrem Stützpunkt Baschika bei Mossul im Nordirak aus und von der türkisch-syrischen Grenze aus den IS mit Artillerie unter Beschuss genommen, berichtete der Premier. An Lufteinsätzen gegen die Terrormiliz in Syrien beteiligt sich die Türkei seit dem Zwischenfall mit Russland vorerst offenbar nicht mehr. Ende November hatten die türkischen Luftstreitkräfte einen russischen Kampfjet abgeschossen, der im syrischen Grenzgebiet mehrere Sekunden lang über türkischem Gebiet geflogen war.
Auf dem Sultanahmet-Platz in Istanbul war auch am Donnerstag noch mehr Polizei als früher schon präsent. Besucher legten weiter Blumen vor dem Obelisken ab, in dessen Nähe sich ein in Saudi-Arabien geborener Syrer in die Luft gesprengt hatte und dabei zehn deutsche Touristen tötete. Der Attentäter, über dessen rasche Identifizierung nur wenige Stunden nach dem Anschlag mittlerweile Verwunderung laut wurde, hatte Anfang Jänner einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Istanbul gestellt.
Der Vorsitzende der rechtsgerichteten Nationalistenpart MHP, Devlet Bahçeli, nahm diesen Umstand zum Anlass, der Regierung Vorwürfe wegen deren bereitwilliger Flüchtlingspolitik zu machen. Der Zustrom syrischer Flüchtlinge in die Türkei habe zu einer großen Bedrohung der nationalen Sicherheit geführt, sagte Bahçeli.
Druck in der Flüchtlingsfrage
Die konservativ-muslimische Regierung in der Türkei und Staatspräsident Tayyip Erdogan waren bisher bemüht, die Aufnahme von mittlerweile 2,5 Millionen Syrern im Land den türkischen Bürgern gegenüber als menschliche Pflicht und Ausweis muslimischer Gastfreundschaft zu begründen. Das könnte sich ändern nach dem mittlerweile vierten Terroranschlag in der Türkei innerhalb eines Jahres, der dem IS zugeschrieben wird.
Trotz gegenteiliger Zusicherungen aus Berlin machen sich viele in der Türkei keine Illusionen über die Folgen des Terroranschlags in Istanbul auf den Tourismus. Die Rechnung könne hoch ausfallen, hieß es im Wirtschaftsblatt Dünya. Mit 5,4 Millionen Touristen von Jänner bis November waren die Deutschen auch 2015 wieder die größte Gruppe der Türkeibesucher, gefolgt von den Russen; Letztere könnten nun wiederum wegen der russischen Sanktionen ausbleiben. Der Tourismus brachte 2015 umgerechnet an die 25 Milliarden Euro ein.
Umstrittener Friedensaufruf
Wie bei früheren Anschlägen sieht sich die Regierung Vorwürfen ausgesetzt, sie habe die Gefahr durch den IS ignoriert und sich stattdessen in einen neuerlichen Krieg gegen die PKK gestürzt. Erdogan reagierte wütend auf einen Friedensappell von mehr als tausend Intellektuellen und Uni-Dozenten. Gegen einige Unterzeichner beginnen nun Ermittlungen und Schritte zur Amtsenthebung. (Markus Bernath aus Istanbul, 15.1.2016)