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Bot seinen vielen Widersachern bereitwillig die imposante Stirn: der Komponist Max Reger, hier auf einer Aufnahme von 1910.


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Chromatik Es fällt nicht leicht, nach den Gründen zu suchen, warum der deutsche Komponist Max Reger (1873-1916) derart gründlich in Vergessenheit geraten ist. Den meisten seiner unzähligen Werke haftet eine gewisse Sprödigkeit an. Reger, im privaten Umgang ein humoriger Kauz, hat vor allem auf dem Gebiet der Harmonik Epochales geleitet. Seine Kompositionen baut er zumeist aus kürzesten Motiven. Die Linienführung ist unruhig. Die Einzelstimmen gleiten nervös auf und ab und folgen dabei häufig der Chromatik, das heißt: Sie bewegen sich in Halbtonschritten fort. Regers Harmonik ist daher von großer Unruhe gekennzeichnet. Oft gerät die Grundtonart komplett aus dem Blick.

Fleiß Regers Werkregister weist 146 Opuszahlen auf. Dahinter verbirgt sich eine wahrhaft schlaraffische Fülle an Kompositionen. Außer der Oper gibt es kaum eine Gattung, zu der Reger nicht Gültiges beigetragen hätte. Der Meister aus Weiden (Oberpfalz) hat das Orgelspiel neu belebt, er hat für praktisch alle Instrumente großartige Kammermusik geschrieben und sich relativ spät mit Orchestrierung befasst. Neun Violinsonaten mit obligater Klavierbegleitung stehen zum Beispiel nicht weniger als elf Sonaten für Sologeige gegenüber.

Fugen-"Maxl" Zwischen der Schule der "neudeutschen" Spätromantik (Liszt, Wagner) und den konservativen Vollendern des Klassizismus (Brahms) hielt Reger stets die Mitte. Versahen die einen ihre Tongebilde mit außermusikalischen Programmen, pochten Letztere auf die Eigengesetzlichkeit der überkommenen Form. Reger reagierte im Reizklima der vorletzten Jahrhundertwende mit einer Rückwendung zu Bach. Seine Meisterschaft kam im Schreiben drei- oder vierstimmiger Fugen zum Ausdruck. Die Behandlung des Kontrapunktes verfolgte er mit der Leidenschaft, mit welcher man Sudoku-Rätsel löst.

Humor Reger war Bayer aus der Oberpfalz. Seine Tonschöpfungen stießen vielfach auf Unverständnis und Häme, und der erzürnte Komponist reagierte mit beißendem Spott. So beschied er einem Kritiker, er sitze mit dessen Zeitungsrezension gerade am stillen Örtchen und habe die Lektüre noch vor sich: "Gleich werde ich sie hinter mir haben!" Ein anderes Mal – Reger war eben Kapellmeister in Meiningen – nahm er das Lob einer Adeligen wohlgefällig entgegen. Die Dame hatte das Spiel der Blechbläser mit Staunen registriert. "Und das alles schaffen die Musiker allein mit der Kraft des Mundes!" – "Wollen wir es hoffen, Euer Durchlaucht, dass es der Mund war", entgegnete Reger.

Jubiläum Des Meisters viel zu früher Tod – er entschlief herzkrank in einem Leipziger Hotelzimmer – dürfte auch hundert Jahre später kein Reger-Fieber auslösen. Die Klassikbranche fasst den eigenbrötlerischen "Akkordarbeiter" nicht mit der Kneifzange an. Einer größeren Verbreitung steht die Komplexität der introvertierten Reger-Musik im Wege. Die Architektur vieler ausladender Sätze lässt sich nur mit äußerster Anstrengung erfassen. In Meisterwerken wie dem Streichquartett d-Moll op. 74 ist die Verarbeitung des Tonmaterials kaum zu überblicken. Oft weiß man nicht: Lauscht man noch der Exposition einer neuen Themengruppe, oder befindet man sich bereits mitten in der "Durchführung"?

Pult Man muss sich Reger, einen korpulenten Mann mit stets angegriffener Gesundheit, als komponierenden Berserker vorstellen. Wiewohl von Natur aus gesellig, pflegte er das Notenschreiben am Stehpult wegen irgendwelcher Gespräche nicht zu unterbrechen. Der Vorwurf der "Vielschreiberei" verkennt Regers Eigenart. Das bekannte Diktum, Bach müsste eigentlich "Strom" heißen, ließe sich auf den spätgeborenen Meister mit ebensolchem Recht anwenden. Als Reger starb, blickte er gerade die Korrekturen von Chorgesängen durch. Ausruhen gab es nicht. Das innere Feuer hielt er mit Unmengen von Bier in Schach.

Ruhm Regers notorisches Einzelgängertum ist Fluch und Segen zugleich. Stießen sich die Zeitgenossen an seiner "molluskenhaften" Harmonik, war er der nachgeborenen Generation nicht radikal genug. Von Strawinsky, der Reger in Sankt Petersburg auf dem Konzertpodium erlebte, ist das bösartige Wort überliefert: "Ich fand ihn ebenso abstoßend wie seine Musik." In einigen Werken seiner "mittleren" Periode stößt Reger das Tor zur Atonalität weit auf. Man findet eine quasi-dodekafonische Verteilung der Noten. Hindurchgehen durch das Tor wollte er nicht. Er hoffte, in der Zukunft sein Publikum zu finden: "Warten Sie nur, in zehn Jahren gelte ich auch schon als Reaktionär und werde zum alten Eisen geworfen. Aber ich werde wiederkommen."

Tonträger Reger ist ehrfurchtgebietend viel aus der Feder geflossen, u. a. in Wiesbaden, München, Leipzig und Jena. Vom Tonträgermarkt wird er stiefmütterlich behandelt. Als ideales Einsteigerpaket bieten sich die Orchesterwerke in einer Einspielung des wunderbaren Dirigenten Hermann Scherchen an (Nordwestdeutsche Philharmonie, cpo). Fortgeschrittene greifen antiquarisch zur Kammermusikbox, erschienen bei Da Camera (23 CDs). (Ronald Pohl, 15.1.2016)