Im Flüchtlingslager Traiskirchen – hier im Bild – sind vor allem Asylwerber untergebracht, die laut Dublin-Verordnung in ein anderes EU-Land zurückgeschickt werden sollen – sowie unbegleitete Minderjährige.

foto: apa/neubauer

Brüssel/Wien – Mit der Verdreifachung der Asylanträge im Vergleich zu 2014 auf rund 90.000 und der Durchreise von über 500.000 Schutzsuchenden Richtung Deutschland war Österreich 2015 flüchtlingspolitisch höchst gefordert und wird es weiter sein.

Doch laut einem aktuellen, dem STANDARD vorliegenden Fact-Finding-Bericht des Europäischen Flüchtingsrates (Ecre) – des größten Flüchtlings-NGO-Zusammenschlusses in der EU mit Sitz in Brüssel – setzten die Asylbehörden ihre ohnehin knappen Kräfte recht kontraproduktiv ein.

Vielkritisiertes Dublin-System

So wurden laut dem Ecre-Bericht zwischen Jänner und November 2015 in Österreich sage und schreibe 15.594 Verfahren auf Rückführung von Asylwerbern in andere EU-Staaten im Rahmen des Dublin-Systems eröffnet: jenes Systems, das dem Einreiseland eines Flüchtlings in die Union die Verantwortung für dessen Asylverfahren überträgt – und das laut der EU-Kommission dringend überdacht werden muss.

Die meisten Dublin-Verfahren betrafen Ungarn, gefolgt von Bulgarien und Italien. Doch seit Sommer 2015 wurde kein Flüchtling aus Österreich ins immer autoritärer agierende Ungarn transferiert.

Rund 30.000 andere Asylentscheidungen

Dieser ineffektive Behördeneinsatz sei Ausdruck einer "Priorisierung der Ressourcen für Dublin", wie es Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) im Juni 2015 angekündigt hatte, schreiben die Ecre-Experten. Und sie vergleichen: Andere asylrechtliche Entscheidungen (Schutzzuerkennungen und -aberkennungen sowie humanitäre Aufenthaltstitel) wurden im – fast – gleichen Zeitraum, zwischen Jänner und Oktober 2015, in 29.520 Fällen erteilt.

Überhaupt werde Flüchtlingen der Zugang zum Asylverfahren in Österreich schwer gemacht, kritisiert der Bericht; bezeichnender Titel: "Durchs Labyrinth navigieren: strukturelle Barrieren, um in Österreich Schutz zu erhalten". Das sei nicht zuletzt eine Folge der jüngsten, am 20. Juli 2015 in Kraft getretenen Asylnovelle.

Kein Verfahren ohne Erstbefragung bei Polizei

Diese nämlich bindet die Aufnahme ins Asylverfahren an eine polizeiliche Erstbefragung, die theoretisch unmittelbar nach dem Asylantragstellen stattfinden sollte. Nach der polizeilichen Befragung wiederum sollte binnen 48 Stunden eine Entscheidung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erfolgen, ob der Asylantrag behandelt wird oder aber Dublin-Verdacht besteht.

Auch sollte der Asylsuchende nach den zwei Tagen in einem Verteilerzentrum untergekommen sein – doch laut Ecre existiert dieser Ablauf derzeit nur auf dem Papier. "NGOs berichten, dass Flüchtlinge in Wien Erstbefragungstermine im Februar 2016 bekommen. Unbegleitete Minderjährige müssen sogar bis Mai oder Juni 2016 warten", notierten die Berichterstatter im November.

Monatelang völlig mittellos

Zusätzliches Problem dabei: Ohne Erstbefragung und damit Asylverfahrensaufnahme haben Asylsuchende keinen Grundversorgungsanspruch. Sie stehen ohne jede staatliche Hilfe da. Auf dies habe bisher nur die Stadt Wien durch Schaffung einer eigenen Wiener Sozialversicherungskarte für Flüchtlinge reagiert, schreiben die EU-Asylexperten.

Ecre hielt am Donnerstag in Wien eine interne Tagung ab. Bei einer Pressekonferenz am Freitag forderte Vorstandsmitglied Karl Kopp von der deutschen NGO Pro Asyl "nicht weniger, sondern mehr Willkommenskultur". Es gelte, "Menschen, nicht nur Grenzen zu schützen". (Irene Brickner, 15.1.2016)