Wien – Der letzte Atelierbesuch im Prater vor drei Jahren. "Es genügt nicht, dass man etwas Besonderes macht", sagte Joannis Avramidis, während er durch seinen Skulpturengarten und die Werkstatt führte. "Es muss auch einer sehen. Gerade das Besondere sehen aber viele nicht." Es klang nicht bitter. Aber mit neunzig machte sich dieser große griechisch-österreichische Bildhauer, der für seine abstrakte Figurationen den Menschen als Maß nahm, wohl keine Illusionen mehr über die Verfasstheit der schnelllebigen Kunstszene, in der verhaltensoriginelle Sensationen oft wichtiger sind als intellektuell fundierte Beharrlichkeit.

Sicher, Avramidis hatte 1962 auf der Biennale in Venedig ausgestellt und zwei Jahre später auf der Documenta in Kassel, er wurde 1973 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis sowie 2013 mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen mit Stern für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. Anlässlich seines neunzigsten Geburtstags ehrte das Kunsthistorische Museum – nicht etwa das Mumok, die Albertina oder das Belvedere – ihn, den künstlerischen Einzelgänger, mit einer Ausstellung. Seine schlichten Köpfe, schlanken Figuren und Figurengruppen sollten mit antiken griechischen Skulpturen in Zwiesprache treten. Es war Avramidis‘ letzte Museumsausstellung – und ein gleichermaßen kunsthistorisch erhellender wie künstlerisch aufregender Dialog.

Joannis Avramidis ist in der Nacht auf Samstag im Alter von 93 Jahren in Wien verstorben.
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"Die Fragen, die ihn beschäftigen, erforderten einen längeren Atem als die Zeitgenossenschaft, die sich mit dem Stück Gegenwart begnügt, in dem wir leben", schrieb Werner Hofmann, Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien und viele Jahre Direktor der Hamburger Kunsthalle, in dem von ihm herausgegebenen Bildband Avramidis oder Der Rhythmus der Strenge (Hirmer Verlag): "Für Avramidis stand und steht die ganze Neuzeit zur Disposition."

Skulpturale Skelette

Es waren immer organische Formen, die ihn beschäftigten, der Kopf und – natürlich – die menschliche Figur, die er abstrahierte, transformierte und aus der er etwas Neues, Monumentales konstruierte: streng, unnachgiebig, kompromisslos und mit großer Eleganz. "Ganz naturalistische Objekte sind wertlos, das machte man auch weder in der Antike noch in der Renaissance. Eventuell im 19. Jahrhundert – als Missverständnis, das zu einer ungeheuren Schwäche in der Darstellung des Menschen geführt hat", sagte Avramidis. Aber, präzisierte er gleich darauf mit der ihm eigenen, verschmitzten Ernsthaftigkeit "rein abstrakte Dinge habe ich nie gemacht. Wenn alles bloß vom Gefühl oder Geschmäcklerischen geführt wird, ist es zu wenig für mich. Es muss noch ein Objekt da sein – und das ist bei mir natürlich die menschliche Figur."

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Das sogenannte Richtungskreuz wurde ihm wichtigste räumliche Orientierung, er schuf skulpturale Skelette aus geschichteten, vertikalen und horizontalen Metallplatten. Ja, Leonardo da Vincis Erbe ist seinen sinnlichen, raffinierten, hochgewachsenen Plastiken innewohnend. Und auch den ausführlichen Skizzen und geometrischen Berechnungen, die der skulpturalen Vollendung vorausgingen.

Einzigartig seine Polis, die Bürgerversammlung aus streng konstruierten aneinandergeschmiegten, völlig gleichen Rundfiguren. Sie sind eine Art künstlerisches und allgemeingültiges Bekenntnis zu einer demokratischen, emanzipierten Welt. "Was Rodin machte, war keine Polis, sondern das sind drei, vier verschiedene Figuren. Aber bei der Polis müssen alle gleich sein, sie müssen alle dieselbe Größe und Form haben", sagte Avramidis, dessen Lebensgeschichte eng mit den humanitären Katastrophen des europäischen Kontinents verknüpft ist.

Avramidis in seinem Atelier.
Foto: Standard/Newald

Seine griechischen Eltern, die in der Türkei lebten, mussten wegen des griechisch-türkischen Kriegs (1919-1922) nach Georgien flüchten, wo 1922 Joannis Avramidis geboren wurde. Wenige Jahre später wurde Georgien der Sowjetunion einverleibt, 1937 Avramidis‘ Vater von Stalin-Schergen verhaftet. Zwei Jahre später emmigrierte die Mutter mit den vier Kindern nach Griechenland, 1943 wurde der damals 21-Jährige Joannis als Zwangsarbeiter nach Österreich verschleppt, wo er in einer Waggonfabrik in Simmering arbeiten musste.

Nach Kriegsende studierte er zwischen 1945 und 1949 Malerei an der Akademie der bildenden Künste, bevor sein bildhauerisches Talent eher zufällig von Fritz Wotruba entdeckt wurde. "Wotruba war ein Glücksfall für mich, dabei interessierte er mich eigentlich gar nicht als Lehrer. Außerdem hatte ich die Akademie schon verlassen. Aber dann kam ich mit einem Kopf an die Akademie, Wotruba holte sofort seine gesamte Schülerschaft." Avramidis, mittlerweile 31 Jahre alt, kehrte an die Akademie zurück, um zwischen 1953 und 1956 Bildhauerei zu studieren. Zehn Jahre später sollte er als Professor zurückkommen und fast 25 Jahre, bis 1992, unterrichten.

Das Schöne als die Summe der Möglichkeiten eines Weltbildes, das auf dem Ineinander der Gegensätze beruht – Werner Hofmann erläuterte den Schönheitsbegriff im Werke Joannis Avramidis' mit einem Zitat von Heraklit: "Das All ist eins: getrennt, ungetrennt, geworden, ungeworden, sterblich, unsterblich, Logos, Aion, Vater, Sohn, Gott und Gerechtigkeit."

Nach dem Tod seiner Frau, der Künstlerin und Dichterin Annemarie Avramidis, vor zwei Jahren zog sich der große, stille Künstler vollends aus der Öffentlichkeit zurück. In der Nacht auf Samstag starb Joannis Avramidis 93-jährig im Kreis seiner Familie. (Andrea Schurian, 16.1.2015)