Chinas Zeichner und Karikaturisten sehen die Wahlsiegerin Tsai Ing-wen nicht als Zerrbild sondern positiv als "neue Steuerfrau" für Taiwan, die ihren eigenen Kurs vorgibt. Karikatur von Kuang Biao, Veröffentlichung mit Genehmigung des Zeichners

Foto: Kuang Biao

Chinesen schwärmten einst von Mao als ihrem kulturrevolutionären Steuermann. Nun hat auch Taiwan seine "Steuerfrau" bekommen, die allerdings Kurs in Richtung Demokratie fährt. Die lobende Zeichnung des bekannten chinesischen Karikaturisten Kuang Biao ist nur eine von vielen Blogs und Online-Beiträgen. Zum Ärger Pekings und seiner Überstunden machenden Zensoren überschwemmen sie seit dem erstaunlichen Wahlsieg der taiwanesischen Oppositionspolitikerin Tsai Ing-wen das Internet.

Dabei war Chinas Regierung auf den politischen Machtwechsel in Taiwan vorbereitet. Doch dann wurde sie vom hohen Wahlsieg der designierten neuen Präsidentin ebenso überrascht wie von der Abstrafung des von Peking favorisierten Kandidaten der Nationalpartei "Kuomintang". Tsai gewann mit mehr als 56 Prozent nicht nur für sich selbst überwältigende Zustimmung. Auch ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) errang erstmals eine absolute Mehrheit der Sitze im Legislativ-Yuan, dem Parlament Taiwans. Präsidentin und Partei verfügen nun über ein gleich doppelt legitimiertes Mandat, ihre Politik gegenüber der Volksrepublik neu zu bestimmen. Schon in ihrer Dankesrede nach dem Wahlsieg bot Tsai Peking an, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Beide Seiten müssten künftig so miteinander umgehen, wie es für sie akzeptabel ist – und dabei von gegenseitigen Provokationen absehen.

Neues Selbstbewusstsein

Die als moderat geltende Tsai bekannte erneut, am "Status Quo des Friedens und der Stabilität" nicht rütteln zu wollen. Zugleich forderte die 58-jährige Juristin Chinas Führung selbstbewusst auf, Taiwans besondere Souveränität und Unabhängigkeit zu akzeptieren: "Unser demokratisches System, unsere nationale Identität und internationaler Bewegungsraum müssen respektiert werden. Jede Form ihrer Unterdrückung verletzt die Stabilität in den wechselseitigen Beziehungen."

Chinas Führung verschlug es die Sprache. Sie hatte die Wahl aussitzen wollen und dazu mit Absicht ihre glanzvolle Pekinger Gründung der Asiatischen Investitionsbank für Infrastruktur (AIIB) auf den Wahltag gelegt. Alle Medienaufmerksamkeit sollte auf das noch bis Montag andauernde internationale Ereignis gelenkt werden, das Staatspräsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang gemeinsam eröffneten. Die Mühe war vergebens: Taiwans spektakulärer Sieg der Opposition stahl ihnen online die Schau. Die Mikroblogs konnten nicht so schnell gelöscht werden, wie sie aufpoppten: "Unser chinesischer Traum geht in Erfüllung – auf Taiwan" oder "Die politische Macht kommt nicht aus den Gewehrläufen – sondern aus den Wahlurnen."

Rasche Reaktion aus Peking

Noch in der Nacht auf Sonntag kommentierten gleich drei Zentralbehörden das Wahlergebnis – ein Novum für die sonst langsam reagierende Bürokratie. Die für "Taiwan-Angelegenheiten" zuständigen Büros unter Partei und Staatsrat warnten vor dem Irrglauben, dass sich Pekings Taiwan-Politik aufgrund von Ergebnissen einer "lokalen Wahl" ändern würde. Sie drohten allen, die eine formale Unabhängigkeit Taiwans anstrebten: "In solch wichtigen Prinzipienfragen, wo es um den Schutz der nationalen Souveränität und territorialen Integrität geht, stehen wir felsenfest." Auch das für Taiwan-Fragen nicht zuständige Außenministerium meldete sich zu Wort. Das Ausland dürfe sich nicht einmischen oder die Ein-China-Politik in Frage stellen, sagte Sprecher Hong Lei: "Es gibt nur ein China in der Welt, und das Festland und Taiwan gehören dazu."

Peking sieht Taiwan als eine nach dem 1949 von Maos Kommunisten gewonnenen Bürgerkrieg abtrünnig gewordene Provinz an. Es hat Taiwans Regierung früher schon mit gewaltsamer Wiedervereinigung gedroht, falls sie versuche, die Inselrepublik zum unabhängigen Staat auszurufen oder ihre Verfassung zu verändern. Peking untermauerte seine Drohung mit Hunderten auf Taiwan gerichteten Kurz- und Mittelstreckenraketen, die seit Jahren an seiner Südküste installiert sind. Wahlgewinnerin Tsai weiß das – und sie weiß auch um die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China. Sie will die Verfassung nicht ändern und äußert sich bewusst nicht zum sogenannten "Ein-China-Konsens". Der in Tsais Partei abgelehnte "Konsens" bezieht sich auf eine Vereinbarung, die Unterhändler beider Seiten 1992 angeblich getroffen haben. Danach akzeptieren die Volksrepublik und Taiwan, jeweils Teile "eines Chinas" zu sein. Sie lassen jedoch unbestimmt, was sie darunter verstehen. Für Chinas Regierung bedeutet die pragmatische Lösung, dass die Tür für eine künftige Wiedervereinigung offen steht.

Warnung vor Abspaltungsversuchen

Peking, das im südchinesischen Meer Territorialkonflikte mit den Philippinen und Vietnam austrägt und sich im ostchinesischen Meer mit Japan streitet, will keine neue Front mit Taiwan eröffnen. Doch die Nachrichtenagentur "Xinhua" nannte die neue Gemengelage gefährlich. "Es ist unbestreitbar, dass die Rückkehr der DPP an die Macht ernste Herausforderungen für die wechselseitigen Beziehungen bringt." Sie warnte Tsai: "Das Festland ist entschlossen und in der Lage, alle sezessionistischen Abspaltungsversuche zu durchkreuzen." Wenn es der DPP "ernst damit ist, den Status Quo erhalten zu wollen, muss sie eine klare Antwort auf die Schlüsselfrage geben, ob sie den Konsens von 1992 unterstützt." Tsai muss nun den Spagat üben, radikalen Forderungen aus ihrer Partei zu widerstehen und dennoch Peking auf Distanz halten zu können. (Johnny Erling aus Peking, 17.1.2016)