Der Belgier Kris Pollet vom Europäischen Flüchtlingsrat sieht kein gemeinsames Asylsystem in der EU. Zentral sei, etwas gegen die ungleiche Verteilung der Asylwerber zu unternehmen.

Foto: Christian Fischer

Der Belgier Kris Pollet ist beim Europäischen Flüchtlingsrat (Ecre), einem Zusammenschluss von Asyl-NGOs aus ganz Europa, für flüchtlingspolitische Belange zuständig. Er sieht bei der Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen kein gemeinsames EU-Asylsystem. In den durch Asylwerber hauptbetroffenen Staaten führe das zu Unruhe und zu einem Aufstieg der Rechten. Laut Pollet könnte Europa weitere 1,2 bis 1,5 Millionen Asylsuchende bewältigen.

STANDARD: In der EU machen viele Staaten derzeit die Schotten gegen Flüchtlinge dicht. Glauben Sie, dass sich die asylpolitische Krise 2016 noch weiter vertiefen wird?

Pollet: Das wird davon abhängen, wie groß der Flüchtlingsstrom sein wird. Kommen weiterhin sehr viele Menschen, wird es zu herausfordernden Situationen kommen. Das europäische Asylwesen krankt schon lange daran, dass die Mehrzahl an Asylanträgen, und damit ausgebaute Strukturen zur Flüchtlingsversorgung und -integration, nur in einer Handvoll Staaten existieren. Wenn 70 bis 80 Prozent aller Asylanträge in vier bis fünf Ländern durchgeführt werden, kann man nicht von einem gemeinsamen EU-Asylsystem sprechen. Abgesehen davon, dass das in besagten vier bis fünf Staaten zu Unruhe in der Bevölkerung und besonderem Auftrieb für die Rechten führt.

STANDARD: Was meinen Sie, wie viele Flüchtlinge 2016 kommen werden?

Pollet: Das ist völlig unvorhersehbar.

STANDARD: Warum?

Pollet: Weil das von einer Fülle von Faktoren abhängt, etwa von der Situation in der Türkei und anderen Nachbarstaaten Syriens. Im Libanon etwa wurden zuletzt Maßnahmen gesetzt, die das Leben der Flüchtlinge ziemlich erschweren. Die EU mit ihren 550 Millionen Einwohnern könnte aber auch weitere 1,2 bis 1,5 Millionen Asylsuchende bewältigen – wenn man das will.

STANDARD: Ist aber nicht offensichtlich, dass man es nicht will? Die Verteilung von Asylwerbern in der EU, die sogenannte Flüchtlingsquote, hat nicht funktioniert.

Pollet: Es schaut nicht gut aus. Bis 12. Jänner 2016 wurden erst 280 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere Staaten gebracht – das Ziel liegt bei 160.000 bis 2017. Da muss sich dringend etwas tun.

STANDARD: Warum ist das so schwierig?

Pollet: Das Problem mit der Quote ist, dass es sich dabei um ein völlig neues System handelt, eines, das bisher noch nie angewandt wurde. Viele EU-Mitgliedstaaten, vor allem im Osten Europas, haben sich quergelegt – und nach den Terroranschlägen in Paris und den Übergriffen auf Frauen in Köln ist die Bereitschaft mitzumachen sicher nicht größer geworden. Auch ist das Quotensystem sehr bürokratisch.

STANDARD: Inwiefern?

Pollet: Es werden nur Flüchtlinge verteilt, die derzeit in Griechenland oder Italien sind. Sie dürfen sich nicht aussuchen, wo sie hinkommen, sondern werden in einzelne Länder verschickt, was ja schon in Zusammenhang mit Rückführungen laut Dublin-Verordnung Probleme bereitet. Sie werden aufwendigen Sicherheitsüberprüfungen unterworfen und müssen die richtige Staatsangehörigkeit haben.

STANDARD: Warum wurden Afghanen nicht miteinbezogen?

Pollet: Weil laut einem EU-Ministerratswunsch nur Flüchtlinge aus Staaten mit unionsweit durchschnittlich mindestens 70-prozentiger Asylanerkennungsquote berücksichtigt werden. Konkret sind das Iraker, Eritreer, Syrer und Staatsangehörige der Zentralafrikanischen Republik. Die EU-Flüchtlingsquoten basieren im Grunde auf Willkür.

STANDARD: Haben Sie andere Vorschläge zur Minderung der flüchtlingspolitischen Krise in der EU?

Pollet: Nun, auch wenn die Erfahrungen mit der Quote wenig erfolgversprechend sind: Zentral ist, etwas gegen die ungleiche Verteilung der Asylwerber zu unternehmen. Die Resettlement-Programme gehören aufgestockt, und es müssen für Flüchtlinge sichere und legale Möglichkeiten der Einreise in die EU geschaffen werden. Etwa indem man beim Familiennachzug großzügiger wird.

STANDARD: Großzügiger? In Österreich ist im Zuge einer Asylnovelle jetzt das genaue Gegenteil geplant.

Pollet: Das ist völlig kontraproduktiv, denn damit zwingt man Menschen, die im Zielland sicher Schutz bekommen, sich auf lebensgefährlichen, illegalen Wegen dorthin durchzuschlagen. (Irene Brickner, 18.1.2016)