Besonders ältere Männer leiden massiv an Verlust und Trennung.

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STANDARD: Männer nehmen sich dreimal häufiger das Leben als Frauen, obwohl bei Frauen weit häufiger eine Depression diagnostiziert wird. Warum?

Lindner: Dazu gibt es verschiedene Hypothesen: Viele Männer greifen aufgrund ihres Selbstbildes schneller zu einer radikalen Lösung für Schwierigkeiten, Probleme oder Einschränkungen. Das trifft vor allem auch auf alte Männer zu. Sie zählen zu der Gruppe, die sich am häufigsten suizidiert – auch in Österreich. Da geht es um gewisse Männlichkeitsideale, zu denen das Radikale und Eindeutige zählen und weniger das Verhandeln, das Kommunizieren oder das Offenhalten von Alternativen. Sicherlich spielt es auch eine Rolle, dass Männer mehr Zugang zu tödlichen Suizidmitteln haben, nämlich speziell zu Waffen.

STANDARD: Was hält Frauen von Suizid ab?

Lindner: Sie haben die Fähigkeit Probleme in Beziehungen zu verhandeln. Frauen sind in allen Bereichen des Psychischen wesentlich besser aufgestellt. Sie holen sich mehr Hilfe, sei es die Freundin oder auch professionelle Unterstützung. Manche Männer sterben lieber, als dass sie sich Hilfe holen. Sie suchen das Helfer-System also viel zu wenig und deutlich seltener auf als Frauen. Gerade bei solchen helfenden, freundschaftlichen oder professionellen Beziehungen entstehen eben doch immer wieder Alternativen sich umzubringen.

STANDARD: Fehlt Männern die Fähigkeit, Gefühle zu benennen?

Lindner: Das ist manchmal der erste Teil einer guten Psychotherapie, das Deklinieren der Gefühle und miteinander zu bestimmen was eigentlich gerade los ist. Das gilt allerdings auch für manche Frauen. Das hat damit zu tun, ob man innerlich schon so weit ist, Gefühle auch mit Worten und Sprache in Verbindung zu bringen. In Behandlungen ist es der erste Zugang, eine innere Sprachwelt zu entwickeln. Erst im zweiten Schritt geht es darum, was eigentlich in einem Menschen vor sich geht, ob er gekränkt ist oder sich verlassen fühlt.

STANDARD: Gibt es auch in der Methode Unterschiede zwischen Suiziden bei Männern und Frauen?

Lindner: Nein, statistisch gesehen nicht. Die häufigste Suizidmethode beider Geschlechter ist das Erhängen. Frauen nutzen etwas häufiger Medikamente, aber im Prinzip gibt es keinen großen Unterschied in den Suizidmethoden. Die Methode hat mit dem Kulturkreis zu tun. In Mitteleuropa ist das Erhängen sehr häufig, die Schweiz ausgenommen. Dort erschießt "Mann" sich standesgemäß.

STANDARD: Suizid ist ein aggressiver Akt. Haben Männer mehr Aggressionen?

Lindner: Grundsätzlich bedarf es einer gewissen Aggression, sich dieses erhebliche Leid zuzufügen und den eigenen Körper anzugreifen. Da sind wir in Wien an der richtigen Adresse: Sigmund Freud hat in "Trauer und Melancholie" 1917 die Dynamiken um die Aggressionen bei Selbstmördern, wie er es damals nannte, sehr genau beschrieben. Geschlechtsspezifische Unterschiede gibt es: Männer haben oft erhebliche Affektkontrollprobleme und große Schwierigkeiten damit, mit heftigen, aggressiven Gefühlen umzugehen. Das ist dann oft verbunden mit schwereren psychischen Störungen und spielt bei vielen suizidalen Männern eine erhebliche Rolle.

STANDARD: Verluste hängen eng mit Suiziden bei Männern zusammen. Nehmen sich ältere Männer das Leben, weil die Ehepartnerin gestorben ist oder sie verlassen wurden?

Lindner: Ja, das Thema des Verlassenwerdens oder des Zerbrechens einer Beziehung ist für Männer einer der wichtigsten Auslöser von Suizidalität. Frauen begehen Suizide häufig in sehr quälenden Beziehungen, da sind die Beziehungen aber noch am Laufen. Männer begehen einen Suizid sehr häufig erst, wenn die Frau sich getrennt hat.

STANDARD: Es fällt älteren Männern also schwerer alleine zu sein, als älteren Frauen?

Lindner: Das ist sehr plakativ formuliert. Es gibt natürlich auch Männer, die im Laufe ihres Lebens gelernt haben, alleine zu sein. Generell leiden ältere Männer massiv an Verlust und Trennung. Wenn es dann zum Suizid kommt, steht dahinter oft eine ganze Lebensgeschichte, in der Verlust und Trennung mit katastrophalen inneren Zuständen verbunden waren. Kinder, die schwere Verluste und Gewalterfahrungen, dabei auch sexuelle Gewalt erleben mussten, sind unter den Suizidenten im späteren Lebensalter besonders häufig.

STANDARD: Im Alter steigt man aus dem Berufsleben aus und leidet vermehrt unter Krankheiten. Spielt auch das eine Rolle?

Lindner: Verlust heißt nicht nur, dass man einen anderen Menschen verliert, sondern auch etwas von sich selbst und das gibt es im Alter häufiger. Etwa wenn er seinen Beruf aufgibt, bedeutet das für manchen Mann auch den Verlust einer beruflichen Identität und den Verlust von Ansehen. Das spielt eine große Rolle beim Übergang ins Pensionsleben. Auch Krankheiten sind Verlusterfahrungen. Wenn man alt und krank ist, verliert man zum Beispiel Mobilität, die Möglichkeit zu lesen, weil man erblindet oder man verliert das Hörvermögen. Wer im Laufe seines Lebens gelernt hat, mit Verlusten umzugehen, kann das im Alter kompensieren und akzeptieren. (Bernadette Redl, 19.1.2016)