Kurdische Mütter im Hungerstreik: Seit Wochen verlangen die Familien Zugang zu den Leichen ihrer Kinder. Die drei jungen Männer schlossen sich den bewaffneten Kämpfern in Diyarbakir an, eine Schülerin kam nicht mehr lebend aus der Kriegszone.

Foto: Hilal Seven

Für die Scharfschützen war sie eine Terroristin, eine der jungen Kurdinnen, die eine Waffe in die Hand genommen hat und in der Altstadt von Diyarbakir gegen den türkischen Staat kämpfte. Für ihre Mutter war Rozerin Çukur nur ein 16-jähriges Schulmädchen, das eine Freundin besuchen wollte. "Sie war so klug. Ich wollte dabei sein, wenn sie ihr Diplom von der Universität bekommt", sagt die Mutter und weint.

Fahriye Çukur hält ein gerahmtes Bild ihrer Tochter in den Händen. Es ist das offizielle Schulfoto, das Gesicht einer jungen Frau mit langem schwarzem Haar und dem suchenden Blick eines Teenagers. Rozerin trägt ihre hellblaue Schuluniform mit dem roten Emblem der türkischen Republik wie an dem Tag, als sie nach Surici ging, der engen, verwinkelten Altstadt von Diyarbakir. Dort liegt Rozerin Çukur nun mit einer Kugel im Kopf.

Leiche auf der Straße

Anwohner zogen die Leiche der Schülerin in ein Haus. So wurde der Familie zumindest berichtet. Mehr als eine Woche ist das bereits her. Rozerin wurde am 8. Jänner erschossen, und dass die Çukurs den Leichnam ihrer ältesten Tochter nicht holen können, macht Familie und Verwandte noch verzweifelter. Seit mehr als einem Monat ist Krieg im Zentrum von Diyarbakir, der Hauptstadt der Kurden im Südosten der Türkei.

Was genau geschah, nachdem die 16-Jährige nach Surici ging, innerhalb der gewaltigen Stadtmauern von Diyarbakir, ist nicht klar. Es war der 11. Dezember, die Behörden hatten in der Nacht zuvor die Ausgangssperre aufgehoben, die seit Tagen galt. Anwohner kauften wieder Lebensmittel oder aber packten ihre Habseligkeiten und nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Rozerin besuchte ihre Freundin. Doch die Freiheit dauerte nur 17 Stunden.

Gefangen in der Altstadt

Als der Provinzgouverneur am Nachmittag erneut eine Ausgangssperre über Surici erließ, war Rozerin gefangen, so sagt ihre Familie. Fast einen Monat steckt das Mädchen in der zerschossenen Altstadt fest, wo sich Armee und Sondereinheiten der Polizei einen Häuserkrieg gegen militante Jugendliche und die kurdische Untergrundbewegung PKK liefern – in Diyarbakir wie in vielen anderen Städten im Südosten.

Rozerin soll in Hasirli erschossen worden sein, einem Viertel in Surici, das direkt an die Stadtmauer grenzt und besonders umkämpft ist. Wollte die Schülerin fliehen oder nur an die frische Luft, als sie trotz des Verbots auf die Gasse ging? Hat sie sich während des Monats des Gefangenseins doch den bewaffneten anderen jungen Kurden angeschlossen, freiwillig oder unter Druck? Rozerin ist nicht die Einzige, um die getrauert wird. Drei weitere Mütter sitzen neben Fahriye Çukur, die nicht aufhört zu weinen. Ramazan Ögüt ist auch nur 16 Jahre alt geworden, Isa Oran und Mesut Seviktek starben am selben Tag, am 23. Dezember, der eine mit 21, der andere mit 24 Jahren. Auch die drei jungen Männer sind noch nicht bestattet. Ihre Leichen liegen ebenfalls irgendwo in Surici.

Der Zorn der Jungen

Die Familien sind deshalb im Hungerstreik. Sie sitzen auf Decken und Polstern in einem Zimmer des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir, die Mütter mit den eingerahmten Porträtbildern. Fahriye Çukur ist meistens auch dabei, nur den Hungerstreik macht sie nicht mit. Es ist ihre Art zu zeigen, dass Rozerin keine bewaffnete Kämpferin gewesen sei, anders als die jungen Männer.

"Was hätte er sonst tun sollen? Er hatte keine Wahl", sagt Mesut Sevikteks Bruder. Ihsan Seviktek hat einen kleinen Gemischtwarenladen in Sureci. Er war ein Mann mit Humor, das lässt sich an seinem Gesicht ablesen, auch wenn es nun hager und müde ist nach mehr als zwei Wochen im Hungerstreik. Drei Jahre saß sein junger Bruder Mesut bereits im Gefängnis, so erzählt er, und als Mesut herauskam, hätte ihn die Polizei weiter drangsaliert. Die jungen Kurden haben mit dem Staat gebrochen. "Entweder sie gehen in die Berge, oder sie verteidigen sich selbst in den Städten", so versucht Ihsan Seviktek diesen Krieg zu erklären. Die "Berge" sind im Nordirak, wo die Untergrundarmee PKK ihr Hauptquartier hat.

Artilleriefeuer im Zentrum

Auf nicht mehr als 20 Bewaffnete schätzt ein Kenner der Lage die Zahl der Militanten in Sureci. Zwei bis drei PKK-Kämpfer würden sie anleiten. Das reicht, um aus der historischen Altstadt eine Kriegszone zu machen. Artilleriefeuer und Salven aus automatischen Waffen dröhnen immer wieder aus dem abgesperrten Bezirk. Wenn der Tag anbricht, beginnen die Hubschrauber über Sureci zu kreisen. Seit 30 Jahren ist die Kurdenfrage nicht gelöst, sagt Ihsan Seviktek. "Die Regierung weiß genau, dass sie zurück an den Verhandlungstisch muss." (Markus Bernath aus Diyarbakir, 19.1.2016)