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Die in Berlin lebende österreichische Schriftstellerin Eva Menasse hat für den wiederaufgelegten Roman von Ernst Lothar das Nachwort geschrieben.

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Universalbegabung: Ernst Lothar war nicht nur Jurist, sondern später auch Schriftsteller, Regisseur und Theaterdirektor, mit 34 Jahren auch jüngster Hofrat aller Zeiten.

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Im Jahr 1948 wurde sein "Engel mit der Posaune" mit Paula Wessely und Attila Hörbiger als Henriette und Franz Alt mit großem Erfolg verfilmt.

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Ernst Lothar, "Der Engel mit der Posaune". 544 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2016. Erscheint am 1.2.2016

cover: paul zsolnay verlag

Rund um das Jahr 1920 besuchte Ernst Lothar, damals Beamter des Handelsministeriums in der Wiener Berggasse, in einer Wohnung gegenüber den großen Sigmund Freud. Im Gespräch über das untergegangene Kaiserreich waren die beiden darin einig, dass sie gar nicht anders konnten, als weiterhin Einwohner eines Landes zu bleiben, das es nicht mehr gab. Freud bemerkte: "Anderswo möchte ich nicht leben. Emigration kommt für mich nicht in Frage. Ich werde mit dem Torso weiterleben und mir einbilden, dass es das Ganze ist." Dass Emigration bald keine Frage der eigenen Entscheidung mehr sein würde, konnten die beiden, die später auch diese Erfahrung teilen würden, nicht wissen; von den Nationalsozialisten gab es zu dieser Zeit noch keine Spur. Am Ende sagte Freud: "Österreich ist ein Land, über das man sich zu Tode ärgert und wo man trotzdem sterben will."

Dieser Satz klingt wie ein Motto zu Ernst Lothars Leben. Das andere Motto, von ihm oft benutzt, wurde von seiner Frau, der bekannten Schauspielerin und Doyenne des Burgtheaters, Adrienne Gessner, überliefert: "Das Leben besteht aus den Pausen zwischen Katastrophen."

Als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts wurde Lothar Ernst Müller 1890 in Wien geboren. Seine Biografie und sein Werk stellen ein besonders intensives Beispiel für lebenslanges Ringen mit Österreich dar. Denn bekanntlich haben sich viele, von Johann Nestroy bis Thomas Bernhard, kritisch an diesem Land abgearbeitet, und immer wieder kommen neue nach. Viele, und gerade die aus Lothars Generation, sind direkt an dem Land oder an seinem Verlust zugrunde gegangen, man denke an Egon Friedell oder Stefan Zweig, an Joseph Roth, Fritz Grünbaum, Peter Hammerschlag.

"Ewiger Optimist zur Unzeit"

Im Nachruf auf seinen Freund und Mentor Max Reinhardt beschrieb Lothar auch die eigene Erfahrung, wenn er von der "Todeskrankheit Emigration" sprach: "Denn man nenne es, wie man wolle, Herzschlag oder Selbstmord, die Herzen derer, die in der Ferne plötzlich zu schlagen aufhörten, die Seelen jener, die fernmüde zu sterben sich entschlossen, waren tödlich verbraucht." Ernst Lothar selbst aber war ein anderer Fall. Zunächst hatte er das Glück, dem Naziterror durch frühe Flucht zu entkommen. Als er auch die Emigration überlebt hatte, setzte er, aus Gründen des Charakters, des Zufalls und seiner individuellen Begabungen, dem Leiden am Heimatland beherzte Taten zu dessen Verbesserung entgegen. Er blieb auch nach der Rückkehr, was er davor gewesen war: ein Impulsgeber des kulturellen Lebens auf verschiedenen Gebieten, als Feuilletonist, Schriftsteller, Regisseur, Theaterdirektor. Er überwand das Leiden, indem er dagegenhielt. Das schafft nicht jeder, dazu brauchte es gerade in den Nachkriegsjahren ein Höchstmaß an Dickfelligkeit sowie einen sonnenstarken Optimismus, den andere Vertriebene als naiv und unpassend empfunden haben mögen. Er sei halt ein "ewiger Optimist zur Unzeit", hat Lothar über sich gesagt. Allerdings darf man nicht unterschlagen, dass auch einige seiner Nachkriegsinszenierungen am Burgtheater mehr als einen Hauch jener Österreichtümelei verströmten, mit der man nach 1945 versuchte, größtmögliche Unterschiede zu den Deutschen hervorzukehren, die gerade noch bewunderte Kriegspartner gewesen waren.

Dabei hatte Ernst Lothar schon als junger Mann befremdet beobachtet, wie die Österreicher im Ersten Weltkrieg zu chauvinistischen Kriegstreibern wurden. Damals hatte der junge Lyriker und Feuilletonist ei- ne Essaysammlung unter dem Titel Österreichische Schriften. Weltbürgerliche Betrachtungen zur Gegenwart veröffentlicht, in der er zu Toleranz und Mäßigung aufrief und die ihm in jenen aufgeheizten Zeiten automatisch den Vorwurf des Defätismus einbrachte. Aber mögen seine Landsleute bald danach Austrofaschisten, anschließend jubelnde Nationalsozialisten geworden sein, mögen sie ab Mai 1945 den vielstimmigen Klagegesang vom "ersten Opfer Hitlers" angestimmt und die erwähnte, verlogene Form der Rückbesinnung auf "wahres" Österreichertum gepflogen haben – Ernst Lothar hielt einen ganz bestimmten Kurs. Er war und blieb ein Kind des an Verknöcherung gescheiterten Habsburgerreichs, aus dem im besten, leider weit verfehlten Fall die "Vereinigten Staaten von Europa" hätten werden können. Zumindest theoretisch war dahinter die Idee von Ausgleich, Toleranz, Miteinander, Versöhnung nationaler und religiöser Feindschaften gestanden, also das Gegenteil jener Rassismen und Nationalismen, die bei seinem Zerfall ausbrachen.

Und diese Werte, mit denen er aufgewachsen war, scheint Lothar sein Leben lang bewahrt zu haben. Eine erstaunliche Leistung, die gerade heute interessant, fast exotisch wirkt, da uns doch das Wort Patriotismus verdächtig klingt, weil es zwischen einem egalitären Europäertum und krudem Nationalismus nichts Drittes mehr zu geben scheint.

Ernst Lothars älterer Bruder Hans Müller (später: Müller-Einigen) war ein bekannter Schriftsteller und Dramatiker. Und obwohl die Familie auf dessen Erfolge durchaus stolz war, zeigte sich der Vater schockiert, als auch der jüngste Sohn den unordentlichen Künstlerberuf ergreifen wollte. Lothar gab nach und studierte Jus, doch die Neigung ließ sich nicht unterdrücken. Schon als junger Beamter verkehrte er in den Schriftstellerkreisen der Wiener Kaffeehäuser. Dort klagte er, dass er wegen seiner Arbeit zu wenig zum Schreiben komme. Stefan Zweig gab ihm einen Rat: "Warum dichten Sie mit Ihren Akten nicht das kleine Österreich größer? Das wäre eine Aufgabe!"

In der Folge verwirklichte Lothar als Ministerialbeamter Projekte, die ebendas versuchten: das verstörte Restösterreich mit der Welt in Verbindung zu halten. Er führte nach Leipziger Vorbild die Wiener Messe ein, wandelte die frühere Exportakademie in die Hochschule für Welthandel um und begründete im Rahmen der österreichischen "Exportförderung" zusammen mit Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal die Salzburger Festspiele.

Die Beamtenlaufbahn gab er, der wegen seiner Leistungen mit 34 Jahren zum jüngsten Hofrat aller Zeiten wurde, dennoch für eine Karriere als Theaterkritiker auf. Neben seinen Feuilletons für die Neue Freie Presse schrieb er Novellen und Romane, im Durchschnitt ein Buch pro Jahr, und schon in der Zwischenkriegszeit gelangen ihm einige Erfolge in der englischsprachigen Welt. Mehrere seiner leicht lesbaren, mitreißenden und filmisch aufgebauten Romane wurden übersetzt, einer, Die Mühle der Gerechtigkeit, wurde als A Case of Murder sogar verfilmt.

Eine amerikanische Karriere

Schließlich kam die Karriere als Regisseur hinzu – angestiftet von Max Reinhardt und, wie er später erzählte, schon Jahre vorher von Hofmannsthal bestärkt, trat er 1932 mit einer ersten Grillparzer-Inszenierung am Burgtheater hervor. Ein Bruderzwist in Habsburg, das davor fast als unspielbar gegolten hatte, wurde zu einem der großen Burgtheatererfolge und läutete, wie Donald G. Daviau und Jorun B. Johns in ihrem informativen Aufsatz über Ernst Lothar berichten, eine Grillparzer-Renaissance in Österreich und Deutschland ein.

Als die Nazis im März 1938 in Wien einmarschierten und jubelnd empfangen wurden, floh Lothar mit seiner Frau und der Tochter Hansi aus erster Ehe über die Schweiz nach Amerika. Die harten und prägenden Jahre der Emigration begannen. In den USA musste er die Erfahrung machen, dass die Erfolge der Vorkriegszeit nichts wert waren: Als er bei seinem amerikanischen Verlag anrief, ließ man sich den Namen buchstabieren. Eine Zeitlang war er so bitterarm und verzweifelt, dass er an Selbstmord dachte. Davon, so schrieb er später in seinen Erinnerungen, habe ihn nicht zuletzt Thomas Mann abgebracht, der schon 1929 einen von Lothars Romanen gelobt hatte und den er nun in Princeton aufsuchte: "Ich verdanke jenem Sommerhalbtag mehr als eine verbindliche Ermutigung – verdanke ihm die Abweisung der Gedanken an das 'Oder', und diesen Dank abzustatten drängt es mich."

Doch schließlich, ab 1941, gelang ihm, was vielen anderen, teils viel bekannteren Kollegen nie gelingen sollte: eine zweite, amerikanische Karriere als Schriftsteller. Insgesamt schrieb er in den sieben Jahren seines Exils fünf Romane, die in englischer Übersetzung erstpubliziert wurden und teilweise erstaunliche Auflagen erzielten: "Lothar (war) einer der wenigen europäischen Autoren, deren Erzählstil bei englischsprechenden Lesern Anklang fand, eine Begabung, die anderen vertriebenen Schriftstellern abging", heißt es bei Daviau/Johns.

Der letzte dieser fünf amerikanischen Romane ist Der Engel mit der Posaune, der Ernst Lothars größter Erfolg werden sollte. Er erschien 1944 zuerst auf Englisch und erreichte in wenigen Jahren eine Auflage von 100.000 Stück. In Österreich wurde der Roman unter der Regie von Karl Hartl mit Paula Wessely und Attila Hörbiger in den Hauptrollen verfilmt; gleich im Erscheinungsjahr 1948 zum besten Film des Jahres gewählt, wurde er einer der erfolgreichsten und bekanntesten Filme der Nachkriegszeit.

Als ihn der ORF vor kurzem, 67 Jahre nach seiner Entstehung, in der Reihe "70 Jahre Film in Rot-Weiß-Rot" wiederausstrahlte, fand sich in der Programmankündigung der boshaft-treffende Satz: "Durch ihren Filmselbstmord als österreichische Jüdin entnazifizierte sich Paula Wessely gewissermaßen selbst." Der Film weicht in diesem wie in einigen anderen Punkten von der Romanvorlage ab. Denn die Wessely als Henriette Alt springt aus dem Fenster, als sie von der Gestapo verhaftet werden soll – diesen Tod hat in Wirklichkeit bekanntlich der große Kulturphilosoph Egon Friedell gewählt. Ihr Nazi-Sohn Hermann Alt wiederum, der im Buch schon 1934 als Dollfuß-Mörder hingerichtet wird, kommt im Film zu spät und findet seine Mutter nur noch tot vor.

Die Strukturidee von Der Engel mit der Posaune ist zauberhaft: anhand eines Wiener Stadtpalais und seiner Bewohner von den Dramen der österreichischen Zeitgeschichte zu erzählen. Das erste Kapitel ist gebaut wie ein Puppenhaus für Kinder, dem die Vorderfront fehlt. Man sieht hinein und findet auf allen Ebenen, in allen Wohnungen die verschiedenen Typen in ihren Schicksalen zappeln, übereinander reden und Intrigen spinnen. Dazu sind sie, die Bewohner des Palais, allesamt miteinander verwandt und verschwägert. Und die Bezüge, die Lothar zu historischen Personen und Ereignissen herstellt, um so die politische Geschichte Österreichs zwischen 1888 und 1938 zu erzählen, sind geschickt geknüpft. Am auffälligsten hineingestrickt ist dabei noch die Liebesgeschichte zwischen der jungen Henriette von Stein und dem Kronprinzen Rudolf, der sich genau am Tag von Henriettes Hochzeit mit Franz Alt erschießt – eine solche künstliche Schlinge ist natürlich ein Vorrecht des Romanschriftstellers. Immerhin ist von diesem unglücklichen Kronprinzen verbürgt, dass er aus Staatsräson eine ungeliebte Frau heiraten musste und auch deshalb Selbstmord beging, weil er sein von allen Seiten eingezäuntes Leben nicht länger ertrug.

Der Rest ist nicht nur möglich, sondern in vielen Familien vorgekommen: dass der eine Sohn, Hans, anständig, nachdenklich und als Firmenerbe keine Idealbesetzung, der andere Sohn, Hermann, wie um sich vom Bruder möglichst abzusetzen, ein Draufgänger und Nazi ist. Der strenge, hochmoralische Onkel Otto Eberhard verkörpert genau den Typus des hochintelligenten, dabei bis zur Verblödung unflexiblen und konservativen Juristen, der massenhaft die Beamtenstellen des Kaiserreichs bevölkert und es damit in den Untergang gestürzt hat.

Im Grunde ist Otto Eberhard ein metaphorischer Wiedergänger des Kaisers selbst. Die Dokumente ordnungsgemäß unterzeichnen, das Zeremoniell penibel einhalten und mit zusammengekniffenen Augen und Ohren hoffen, dass alles, was nach Erdbeben und neuer Zeit aussieht, doch bloß Einbildung ist – bis man selbst unter den Trümmern begraben liegt. Die Künstler dagegen, wie der Maler Drauffer, sind entweder harmlose Narren oder, wie die etwas Jungfrau-von-Orlèans-hafte Selma Rosner, die große Liebe von Hans Alt, zu gut für diese Welt.

Für den unglücklichen Firmenerben Hans Alt, von den Zeitläuften wie den Launen seiner Mutter herumgeweht wie ein Blatt, gab es, wie Ernst Lothar später eingestand, ein Vorbild. Lothar erfuhr erst nach dem Krieg, dass dieses Vorbild fünfeinhalb Jahre "Konzentrationslagerpein erlitten" hatte, der Mann sei danach "österreichischer denn je gewesen". Trotz Vorbilds ist dieser hochanständige, bemitleidenswerte Hans Alt, dem der böse Bruder auch noch die Frau vergiftet, ein bisschen schattenhaft geraten, erinnert ein wenig zu sehr an die typisch zaudernden Letzten großer Familien, von denen Hanno Buddenbrook nur der berühmteste ist.

Die interessantesten, weil vielschichtigsten Figuren sind Henriette und Franz Alt, das ebenso unglückliche wie starke Ehe- und Elternpaar: Henriette, zu stolz, um Kronprinzenmätresse zu werden, nimmt lieber den reichen, aber ungeliebten Franz und weint den Rest ihres Lebens aufbegehrend der großen Liebe nach. Franz wiederum, der eigentlich eine gute Mischung aus Tradition und Aufgeschlossenheit wäre, versagt in den entscheidenden Momenten seines Lebens, weil die Kränkungen durch seine Frau tiefe Spuren hinterlassen haben. Beide haben gute und schlechte, vor allem immer wieder überraschende Seiten, sie changieren und sind nicht, wie sonst manches in der Literatur von Ernst Lothar, festgeklopft und bis ins Detail ausgemalt.

Der Engel mit der Posaune ist kein erstklassiger Roman; das dürfte auch zu seinem Vergessen beigetragen haben. Aber er ist, in dem großen historischen Zugriff, den er versucht, doch ein sehr guter. Womöglich wird er nach einer gewissen Quarantäne jetzt wieder besser, wie mancher Rotwein. Denn die Ereignisse, die er schildert, sind uns heute so fremd und fern, die handelnden Figuren jedoch so vertraut, dass dieses Buch geradezu historisch-soziologische Nachhilfe leistet. Und da Belletristik das Mitgefühl und die Identifikationsbereitschaft des Lesers mit anspricht, vermittelt sie manch Atmosphärisches besser als die Geschichtsschreibung. Das Genre des historischen Romans neigt ja künstlerisch ein wenig zum Plumpen, ist dafür ideologisch und pädagogisch oft umso interessanter.

Zeitgebundene Färbungen

Man nehme nur Henriette Alt: Wie stark ihre jüdische Herkunft betont und für ihre Leichtlebigkeit mitverantwortlich gemacht wird ("Frauen, die das Leben für ein verbrieftes Recht auf Freude hielten"), berührt heute eigentümlich, an manchen Stellen fast unangenehm. Ihrem Schöpfer Ernst Lothar kann man aber schwerlich vorwerfen, was man bei anderen Autoren, etwa seinem Zeitgenossen Doderer, schon als untrüglichen Beweis für Antisemitismus nehmen würde. Auch von solch zeitgebundenen Färbungen lässt sich etwas lernen.

Das Beeindruckendste an diesem Roman ist aber etwas anderes, etwas, das auf den ersten Blick eigentlich vollkommen banal ist: dass man die schwersten Brüche der österreichischen Geschichte innerhalb eines einzigen Lebens erzählen kann. Die junge Henriette liebt noch den Kronprinzen und wird als alte Frau von den Nazis umgebracht. Das ist verblüffend und macht dem Leser auf andere Weise klar: Der Zusammenbruch des habsburgischen Weltreichs, der Kollaps der Ersten Republik durch Bürgerkrieg und der "Anschluss" an Nazideutschland ereigneten sich innerhalb von so kurzer Zeit, nämlich von nur zwanzig Jahren, dass sie sich für die folgenden Generationen – also uns – geradezu zu einer einzigen unentwirrbaren Katastrophe zusammengeklumpt haben, was eine Aufarbeitung anschließend umso schwieriger macht und vermutlich auch eine Erklärung für einige der beharrlich festklemmenden Neurosen im neueren österreichischen Nationalcharakter ist. Vom Kaiser wie von den Nazis fühlen wir uns heute durch tiefe, schützende Gräben getrennt, dabei folgte für Zeitgenossen auch damals, wie immer in der Geschichte, nur ein Tag unerbittlich auf den anderen. Die Brüche und Gräben fügt erst der retrospektive Blick hinzu.

Der Engel mit der Posaune jedenfalls, der Roman, der Österreich einer unwissenden Welt erklären sollte, wie Lothar in der ersten Ausgabe betonte, ist bis heute hervorragend geeignet, den Österreichern sich selbst zu erklären. Damit entspricht er auf unbeabsichtigt doppeldeutige Weise seinem Grillparzer-Motto: indem er dieses ganz spezifische Panoptikum aus makellosem Stil und Verlogenheit ausbreitet, aus Anstand und Zwänglertum, aus Mitternachtswalzer und Duell im Morgengrauen, und schließlich aus Politik, die, um überhaupt Wirkung zu haben, immer einen Hauch Theater in sich trägt.

Weil es Ernst Lothar so vehement um Belehrung und Überzeugung ging, weniger um die Schaffung eines literarischen Kunstwerks, schwankt das literarische Niveau des Romans, dreht gelegentlich ins Kolportagehafte, manchmal Kitschige ab. Doch die gute Lesbarkeit, die voller Zuneigung und Humor gezeichneten Figuren und das dichte historische Kolorit wiegen diese Unzulänglichkeiten allemal auf. Welches Potenzial dieser Autor aber gehabt hätte, wenn er sich für die Sprachkunst an sich nur ein bisschen mehr interessiert hätte, kann man anhand etlicher Stellen bewundernd feststellen. Eine der schönsten findet sich gleich zu Beginn, als das Palais der Familie Alt und der namensgebende Engel über dem Portal beschrieben wird. Der Engel wiederum kann als komisch-grelles Sinnbild des Österreichers gelten, damals wie heute – und vermutlich für die Ewigkeit:

"Er blies eine Posaune, und diese Posaune war ein merkwürdiges Instrument. Mit einem dünnen langen Rohr, das der Steinmetz um so viel zu lang gemacht hatte wie den nackten Arm, der sie hielt, zu kurz, richtete sie sich speergleich empor, und der schmale Teller an ihrem Rand trug auch nicht viel dazu bei, sie als Trompete erkennen zu lassen; sie sah eher wie eine Waffe aus. Der Engel allerdings, an dem man einen Flügel, den rechten, und den dicksten Körper sah, der je auf rundgeballten Steinwolken geschwebt haben mochte, erwies sich als ein richtiger österreichischer Barockengel. Er blies aus beiden Backen." (Eva Menasse, Album, 23.1.2016)