Alkohol schädigt viele Organsysteme unter anderem auch den Darm. Wenn Vitamin B1 nicht mehr aufgenommen werden kann, nimmt das Gehirn Schaden.

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Reichlich verloren stand der Mann am Ende des Korridors. Eigentlich wollte er mit seinem elektrischen Rollstuhl in den Speisesaal fahren, eine Strecke von 40 Metern, doch er hatte den Weg vergessen – wie so oft. Diese eine Abzweigung machte ihm immer wieder zu schaffen. Ein Pfleger brachte ihn zu Tisch. Morgen würde dasselbe passieren.

Obige Szene spielte sich in einem niederländischen Pflegeheim ab. Der Patient war nicht alzheimergeplagt, sondern ein ehemaliger Alkoholiker, und noch nicht mal im regulären Rentenalter. Die Sucht hatte ihm buchstäblich das Gehirn zerfressen. Erinnerungsvermögen und Koordination funktionierten nicht mehr, auch Gehen konnte der Mann kaum noch. Für die behandelnden Ärzte indes war die Diagnose klar: Wernicke-Korsakow-Syndrom.

Nicht jeder chronische Trinker wird dement. Die sogenannten funktionierenden Alkoholiker bleiben geistig erstaunlich leistungsfähig. Bei einem gelungenen Entzug gehen auch die entstandenen Beeinträchtigungen meist zurück. Andere Alkoholkranke dagegen bauen geistig stark ab und erholen sich auch dann nicht, wenn sie gänzlich mit dem Trinken aufhören. Die Schäden sind dauerhaft.

Gravierende Störung

Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen scheint das lebenswichtige Coenzym Thiamin auszumachen, besser bekannt als Vitamin B1. "Vermutlich leiden alle Alkoholiker mit permanenten Hirnpathologien mehr oder weniger unter Thiaminmangel", meint Lisa Savage von der Binghamton University im US-Bundesstaat New York. Die Neurowissenschafterin untersucht die Hintergründe von Demenz und Kognitionsverlust. Das Wernicke-Korsakow-Syndrom gilt als eine der gravierendsten Ausprägungen solcher Störungen. Unbehandelt kann die Krankheit tödlich enden.

Thiamin kommt in Vollkorngetreide, Nüssen, Hülsenfrüchten, Eiern sowie Rind- und Schweinefleisch vor. In aktivierter Form hilft die Substanz den Enzymen bei der Umsetzung von Zuckermolekülen in Energie. Eine stetige Zufuhr von Vitamin B1 ist vor allem für das zentrale Nervensystem entscheidend. Im Gehirn lässt sich die Substanz nicht speichern.

Wenn es zu einem länger anhaltenden Defizit kommt, verhungern die Neuronen. Mancherorts wird die Hirnmasse löchrig. Solche Läsionen treten in erster Linie im Thalamus und den Mammillarkörpern auf.

Problem liegt im Darm

Oft wird das Wernicke-Korsakow-Syndrom als eine suchtbedingte Folge von Fehlernährung gesehen. Viele Alkoholkranke achten nicht darauf, was sie essen, das würde zu einer Unterversorgung mit Thiamin führen. Doch so einfach ist es nicht. Ein Teil des mit der Nahrung aufgenommenen Vitamins B1 gelangt bei Trinkern womöglich erst gar nicht ins Blut, erklärt Lisa Savage. "Alkohol ist auch im Darm aktiv und kann die Aufnahme vieler Nährstoffe blockieren."

Eine zusätzliche Verabreichung von Thiamin über Tabletten oder Injektionen sei deshalb für Alkoholkranke sinnvoll. Vereinzelt tritt das Wernicke-Korsakow-Syndrom auch bei Magersüchtigen oder Patienten mit schweren Schäden im Magen-Darm-Trakt auf.

Savage und ihre Kollegen haben die Zusammenhänge zwischen Gehirnschäden, Alkoholkonsum und Thiaminmangel in Tierversuchen unter die Lupe genommen. Sie setzten Ratten sechs Monate lang Trinkwasser mit 20 Prozent Ethanol vor. Einige Tiere bekamen zuvor vier Wochen lang thiaminfreies Futter, andere im Nachhinein. Die Nager mussten zudem mehrere Verhaltenstests durchlaufen. Am Ende des Versuchs wurden ihre Gehirne mikroskopisch analysiert.

Vitaminmangel als Trigger

Die Untersuchungsergebnisse in der Fachzeitschrift Alcoholism zeigen ein interessantes Bild. Trinkende Ratten büßen deutlich stärker an räumlichem Gedächtnis ein, wenn sie zeitweilig mit Vitamin B1 unterversorgt sind.

"Der Effekt ist nicht nur summierend", betont Lisa Savage. Es gibt also eine Wechselwirkung. Diese ist wahrscheinlich in der Schädigung des Thalamus begründet. Letzterer sei so intensiv mit anderen Hirnregionen verknüpft, dass deren Funktionen ebenfalls leiden. Die von Thiaminmangel verursachten Zellverluste unterbrechen somit wesentliche Schaltkreise und verstärken dadurch die vom Alkohol allein ausgelösten Ausfälle.

Für Patienten mit dem Wernicke-Korsakow-Syndrom gibt es dennoch Hoffnung – vorausgesetzt, die Krankheit wird rechtzeitig erkannt. Savage hat leicht bis moderat geschädigte Ratten einem kognitiven und körperlichen Trainingsprogramm unterworfen. Die Nager erholten sich wieder, trotz der neuronalen Lücken im Thalamus. Die Studie wird demnächst veröffentlicht. (Kurt de Swaaf, 23.1.2016)