Ein kurdisch-türkischer Teilnehmer der NOW-Flüchtlingskonferenz in Wien prophezeite: Wenn der Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Zivilbevölkerung im Südosten so weitergeht, dann besteht die nächste Flüchtlingswelle nach Europa aus türkischen Kurden.

Noch eine Fluchtwelle aus noch einem Krisenherd in unserer Nachbarschaft? "Die Zeit ist aus den Fugen", sagt Hamlet und die Liste der kriegerischen und sonstigen Katastrophen von Afghanistan bis Burkina Faso scheint das zu bestätigen.

Daraus folgt eine "unbequeme Wahrheit". Europa wird noch auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte damit konfrontiert sein, dass das Elend an seine Küsten brandet. Wir können nicht "das Unheil der ganzen Welt schultern"? Nein, wir werden es müssen, zumindest zum Teil. Und zwar aus der Position eines Kontinents, der über beträchtliche geistige, materielle, technologische und letztlich auch humanitäre Ressourcen verfügt. Es bleibt uns nicht viel anderes übrig.

Der weise Hugo Portisch blickt am Schluss seines Erinnerungsbandes ("Aufregend war es immer") in die Zukunft und zeichnet ein bedrohliches Bild, liefert aber gleichzeitig auch eine Handlungsanleitung. Der Krieg in Syrien und im Irak werde eines Tages vorbei sein, "viele der Flüchtlinge aus diesem Gebiet werden, so ist für sie zu hoffen, wieder heimkehren können. Aber Afrika und die Afrikaner bleiben, und sie werden immer mehr. Sie werden weiterhin versuchen, nach Europa zu kommen".

Im Gegensatz zu den "Festung Europa"-Befürwortern und den Weltuntergangspropheten, die die öffentliche Meinung dominieren, leiten Menschen wie Portisch aus einer erkannten Situation Handlungsmaximen ab. Die EU müsse Afrika einen neuen "Marshallplan" anbieten, ein großzügiges Aufbauprogramm, analog zu den amerikanischen Milliarden, die den Europäern nach 1945 wieder auf die Beine geholfen haben (Österreich war ein Hauptnutznießer).

Während Ostasien mehr oder weniger prosperiert ("nur" sieben Prozent Wachstum in China gilt als ernstes Alarmzeichen), während sich Südamerika halbwegs erfangen hat, implodieren die arabische Staatenwelt und zahlreiche Länder Afrikas. Dieses leidet unter hoher Geburtenrate, dem Klimawandel und vollkommen korrupten, zu Good Governance unfähigen Eliten. Bevor sich hier die Millionen auf den Weg machen, ist es vielleicht besser, eine Politik der vorbeugenden Investition – in materielle wie geistige Güter – zu versuchen. Keine "Entwicklungshilfe". Sondern wirklich ein Marshallplan, dessen Merkmal es zwar, dass ganz langfristige Kreditmittel an konkrete Projekte gebunden waren.

Das ist alles noch nicht ausgereift. Und die Mehrheit in Europa und Österreich glaubt, man müsse sich nur genügend abschotten, um diese "Völkerwanderung" von uns fernzuhalten. Wir haben erstmals in unserer Geschichte einen nennenswerten, breiten Wohlstand und um den bangen wir (am meisten die, die von Leistungen des Sozialstaates abhängig sind). Aber defensives Verhalten und Isolationismus sind kein Erfolgsrezept. Isolationistisch waren die Amerikaner nach dem Ersten Weltkrieg, bis sie da durch die Geschichte wieder herausgezwungen wurden. "Um Europa zu retten, muss man Afrika retten", schreibt Portisch. Vielleicht auch den Nahen Osten. (Hans Rauscher, 22.1.2016)