Ammans Vizebürgermeister Yousef al-Shawarbeh hält nichts von Grenzschließungen.

Foto: Daniel Novotny

STANDARD: Die jordanische Hauptstadt Amman mit vier Millionen Einwohnern beherbergt derzeit etwa 450.000 Flüchtlinge. Wie geht die Bevölkerung damit um?

Shawarbeh: Zu Beginn der Syrienkrise (2011, Anm.) hieß die jordanische Gesellschaft die syrischen Flüchtlinge willkommen. Niemand hatte damit ein Problem, und es gab Hilfsinitiativen aus der Zivilgesellschaft. Jetzt, wo die Krise schon sehr lange dauert, kommen leise Beschwerden. Besonders, was den Arbeitsmarkt betrifft. Die syrischen Flüchtlinge machen den Jordaniern bei Jobs in mittleren und niedrigeren Einkommensklassen Konkurrenz. Dazu muss man wissen, dass Jordanien Syrern weder die Einreise noch das Arbeiten verbietet.

STANDARD: Wie betrifft die Flüchtlingssituation Ihre Arbeit als Vizebürgermeister?

Shawarbeh: Wir haben wegen der hohen Flüchtlingszahlen Schwierigkeiten mit dem öffentlichen Verkehr, im Umweltsektor, bei der Abfalllogistik, der Müllentsorgung und der Wasserversorgung. Unsere Infrastruktur ist nicht darauf ausgerichtet, von so vielen Menschen genutzt zu werden. Auch deshalb gibt es Beschwerden aus der Bevölkerung.

STANDARD: In Amman gibt es weder Lager noch Zeltstädte. Wo sind die Flüchtlinge untergebracht?

Shawarbeh: Sie müssen sich selbst um eine Unterkunft kümmern. Viele wohnen am Stadtrand oder außerhalb und kommen nur zum Arbeiten in die Stadt. Die angemieteten Wohnungen sind oft in schlechtem Zustand – und klein, werden aber trotzdem von mehreren Familien geteilt.

STANDARD: Kommen Flüchtlinge auch privat unter?

Shawarbeh: Viele Jordanier haben die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Wir haben aber nicht geahnt, dass diese Krise so lange dauern würde. Und je länger sie dauert, desto schwieriger wird es für alle.

STANDARD: Wie ist die Stimmung in der Stadt?

Shawarbeh: Die Beschwerden nehmen zu, wenn auch langsam. Ich sehe die Gefahr, dass die Stimmung kippen könnte. Wir müssen Lösungen finden, um einer Feindschaft vorzubeugen.

STANDARD: Wie kann man dieser vorbeugen?

Shawarbeh: Durch Integration. Wir müssen vor allem die Flüchtlingskinder und -jugendlichen ausbilden. Es deutet nichts darauf hin, dass der Syrien-Konflikt bald beendet sein wird; wir brauchen einen nachhaltigen, langfristigen Plan. Das schaffen wir nicht allein. Unsere Ressourcen sind aufgebraucht. Deshalb bitten wir die Staatengemeinschaft um Hilfe.

STANDARD: Warum sagt Jordanien angesichts der hohen Flüchtlingszahlen nicht Stopp oder beschließt eine Obergrenze?

Shawarbeh: Wie könnten wir als Nachbarland die Türen vor jemandem verschließen, der vor Leid, Demütigung und Tod davonläuft? Wir können und würden uns das nicht erlauben. Es wäre für uns jenseits jeglicher Moral und Humanität, Zahlen festzulegen. Das mögen EU-Staaten so machen, weil sie weit entfernt sind. Doch wir sind alle gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Ich sehe auch die Entscheidung, nur Flüchtlinge aus bestimmten Ländern oder mit bestimmten Qualifikationen aufzunehmen, als problematisch an. Man kann zwischen Menschen, die Hilfe brauchen, die vor Not, Hunger oder Tod fliehen, nicht unterscheiden.

STANDARD: Klingt das für Sie eigentlich absurd, wenn Sie hören, dass Österreich mit 90.000 Asylsuchenden überfordert ist?

Shawarbeh: Es überrascht mich. Österreich tut sich doch leichter, weil es viel reicher ist. Vergleichen Sie die zwei Länder allein, was das Wasser anbelangt. Jordanien ist wasserarm – wir können die Menschen nicht versorgen. Österreich hat einen Wasserreichtum, der für uns unvorstellbar ist. (Christa Minkin, 25.1.2016)