Die Krise der Migrationspolitik in Europa begann im vergangenen Sommer aus dem Ruder zu laufen. Nun droht eine Karambolage der ganzen Union, wenn nicht rasch etwas geschieht. Wie konnte das passieren?

Der Zustrom von Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten über die Balkanroute stieg im Juli deutlich an. Bis zu zehntausend pro Tag kamen von der Türkei auf eine der griechischen Inseln in den gemeinsamen Schengenraum der offenen Grenzen.

Die Reaktionen der EU-Staaten waren sehr unterschiedlich. In Ungarn ergriff die Regierung ohne jede Rücksicht auf Partner Maßnahmen, um das eigene Land "flüchtlingsfrei" zu machen. In Österreich tobte zwischen Politik und Hilfsorganisationen wochenlang der Streit, ob man Flüchtlinge auch in Zelten unterbringen dürfe.

In den meisten EU-Ländern, ob im Baltikum und Polen, ganz im Westen oder auf der Iberischen Halbinsel kümmerte all das kaum jemanden.

Das geschah, obwohl die EU-Kommission bereits im Mai einen Plan zur fairen Verteilung von Flüchtlingen vorgelegt hatte, um Griechenland (und Italien) zu entlasten. Präsident Jean-Claude Juncker warf sich ins Zeug, so wie später beim Aktionsplan zur Kooperation mit der Türkei, zuletzt mit dem Konzept zur Schaffung einer gemeinsamen Küstenwache zum Schutz der Außengrenzen – einer Idee aus Paris.

Fast nichts davon wurde umgesetzt, die Regierungen sind säumig. Das alles muss man in Erinnerung rufen, wenn nur vier Monate nach dem "Wir schaffen das!" der deutschen Kanzlerin Angela Merkel fast in Panik nach der Lösung gerufen wird; wenn – je nach Weltanschauung – eine gemeinsame europäische Antwort beschworen wird oder die nationale Abschottung. Beides ist eine gefährliche Illusion. Die einfache und rasche Lösung gibt es nicht.

Die EU als Ganzes ist daran vorläufig gescheitert, an Ignoranz für das Gemeinsame. Sie ist kein Bundesstaat, hat keine Regierung, und es fehlt zur effektiven Bewältigung der Flüchtlingsprobleme das Regelwerk. Die missliche Lage erinnert an das Frühjahr 2010, als sich die Probleme in Griechenland zur Eurokrise auswuchsen. Wie damals dürfte auch diesmal eine Lösung von einer Gruppe von EU-Staaten ausgehen, die sich zusammentun – mit Deutschland im Mittelpunkt. Daran führt kein Weg vorbei. Die restriktiven Maßnahmen, die die rot-grüne Regierung in Schweden und die großen Koalitionen in Wien und Berlin bei der Gewährung von Asyl setzen, sind nur das Vorspiel.

Als sich im September eine humanitäre Katastrophe von Lesbos bis Linz abzeichnete, öffnete Merkel ihr Land: aus Notwendigkeit, damit kleine Länder nicht erdrückt werden. Sie rettete die Ehre Europas, bewahrte den Balkan vor Destabilisierung.

Von 1,5 Millionen Flüchtlingen kamen 1,3 Millionen nach Deutschland, Schweden und Österreich. Das wird es kein zweites Mal geben. Auch wenn Merkel noch immer von einer "europäischen Lösung" spricht, die sie gerne wollte, zieht sie im Hintergrund längst die Fäden zwischen einzelnen Staaten, um Restriktionen auf eine breitere Basis zu stellen. In der Kommission gilt nur, was "mit Berlin" abgesprochen ist. Kein Zufall auch, dass der türkische Premier zuletzt zu ihr nach Berlin reiste. Mitte Februar soll nun beim EU-Gipfel ein Bündel an Maßnahmen geschnürt werden. Ob es Wirkung zeigen wird, ist völlig offen. Aber die Partner wissen auch: Wenn Merkel jetzt scheitert, scheitert auch Europa. (Thomas Mayer, 25.1.2016)