Die Amme (Steffi Krautz) ist Projektion, die drei Julias heißen (v. li.): Nadine Quittner, Stefanie Reinsperger, Katharina Klar.

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Wien – Zwei Veroneser Familien befehden einander ohne Unterlass. Die Degen sitzen locker, aus den nichtigsten Anlässen entstehen blutige Raufhändel. Beide Sippen hüten jeweils ängstlich einen Spross, Romeo und Julia. Die Kinder pubertieren und werden aufeinander aufmerksam. Prompt schlägt der Blitz in sie ein. Die Umwelt, die von dem jungen Glück nichts wissen darf, erstickt das Paar im Nu.

Shakespeare nimmt den Zuschauer bis zum bitteren Ende mit auf eine Hochschaubahn der Gefühle. Im Kosmos des Weltdramatikers verheißt Romeo und Julia den unschuldigsten aller Genüsse. Die Wonne der Liebe ist grundsätzlich jedermann zugänglich. Im Wiener Volkstheater setzt Regisseur Philipp Preuss aus Gründen, die keinem Milchmädchen einleuchten würden, auf eine Verdreifachung des Genusses. Drei Romeos stehen auf nachtfinsterer Bühne (Ausstattung: Ramallah Aubrecht) ebenso vielen Julias gegenüber.

Um das Geschenk dieser wunderbaren Zellteilung zu würdigen, muss man sein Denken in gesellschaftliche Bahnen lenken. Twens und Teenager bilden nun einmal gerne Gruppen ("Cliquen"). Hinzu kommt eine weitere Grundsatzentscheidung, die den Abend mit Bleischuhen beschwert.

Romeo und Julia spielt hier ganz eindeutig im Milieu der Musikalienhändler und Klavierstimmer. Ein schwarzer Kubus dreht sich gemächlich im Kreis. Schwarze Abhänger bringen die Kiste zum Glitzern. An den Innenwänden – trautes Heim, Krach allein – sind lauter Pianinos geparkt. Den Saiten dieser bürgerlichen Prestigeobjekte entlocken neun Pianisten ein an den Nerven zerrendes Rumoren. Alle Uhren sind von Anfang an auf Ablaufen gestellt. Die von Preuss vielerorts vorgetragene These, die Liebe sei (sehr frei nach dem französischen Denker Alain Badiou) ein die ganze Welt umstürzendes "Ereignis", wird szenisch nur ansatzweise beglaubigt.

Ein durchsichtiger Schleier bleibt einen Spalt breit nach oben geöffnet. Die Romeos kommen nach vorn an die Rampe gekrochen. Die jungen Herren sind von denkbar unterschiedlichem Temperament. Thomas Frank, der stärkste und mächtigste, brüllt sich nach einer gewissen "Rosalinde" die Seele aus dem Leib. Von keckerer Natur ist Nils Rovira-Muñoz. Er hat eine Plastikflasche in der Hand und gießt sich ihren Inhalt über den Kopf, um seine Liebesglut zu löschen. Kaspar Locher nimmt in diesem Bund rasend Verliebter am ehesten die Rolle des Pragmatikers ein.

"Nichts ist, was es ist!" Die umstürzende Wirkung hell lodernder Leidenschaft äußert sich in einer Reihe von Bemerkungen, die Preuss eingangs recht geschickt montiert hat. Durch die zahlenmäßige Aufstockung der Romeo-Rolle lässt sich die Streichung von Mercutio und Benvolio verschmerzen. "I lost myself": Wieder einmal muss die Einsicht, "ich" sei jemand anderer, für Interpretationsgymnastik herhalten. Julias kuriose Amme (Steffi Krautz) ist eine pfiffig-lüsterne Alte, die ihr Antlitz auf den Vorhang beamen lässt. Wechselt die Farbe ihrer Augen, gibt sie jeweils auch Frau Capulet.

Ein Krönchen für die Scheu

Das Kennenlernen findet beim Clubbing statt. Die zweimalige Wiederholung der berühmten Balkonszene ermöglicht es allen Julias, ihre Sensibilität gewinnbringend zur Geltung zu bringen.

Erst möchte man Nadine Quittner das Krönchen zuerkennen, ihrer zarten Scheu, ihrer Überwindung der Schüchternheit. Sodann staunt man über Stefanie Reinsperger. Am liebsten hätte dieses faszinierende, schwere Mädchen auf der Stelle mit ihrem Liebsten Geschlechtsverkehr! Aus spröderem Holz ist dagegen Katharina Klar geschnitzt.

Auf dieses Furioso folgt leider nicht mehr viel. Prinz Paris (Christoph Rothenbuchner), der offizielle Werber, verfehlt Julia. Die Capulets tragen Pappmachémasken. Droht das Geschehen einzuschlummern, singt Paris eine entzückende Kinderversion von Nick Caves Into My Arms. Das Blut saugt man aus Flaschen und spuckt es in Fontänen aus.

So wurde das Veroneser Liebespaar gleich dreimal auf das Prokrustesbett einer einzigen "Idee" gezwungen. Schade darum. Das Publikum zerfiel übrigens nicht in drei, sondern nur in zwei Parteien. Die eine war hellauf begeistert, die andere schrie "Buh". Man bemerkt die Aufbruchstimmung am Hause. Hilfreich wäre jetzt eine gelungene Produktion. (Ronald Pohl, 25.1.2016)