Von den Turbulenzen in der EU und dem internationalen Flüchtlingsdrama überschattet, wird die akute Wirtschaftskrise in Russland kaum beachtet, obwohl ihre Auswirkungen breite Bevölkerungsschichten hart treffen. Nicht die vieldiskutierten westlichen Wirtschaftssanktionen wegen Putins aggressiver Politik gegenüber der Ukraine, sondern schlicht und einfach der unaufhaltsame Verfall des Rohölpreises hat die latente Wirtschaftskrise fühlbar verschärft. In den letzten achtzehn Monaten fiel der Rohölpreis um 75 Prozent, von 110 auf unter 27 Dollar je Barrel.

Angesichts der Tatsache, dass auch in Wladimir Putins siebzehntem Jahr an der Macht das Staatsbudget, die gesamte Wirtschaft und nicht zuletzt der Lebensstandard noch immer von den Exporteingängen aus Rohöl und Gas abhängen, sind die Folgen des niedrigen Ölpreises in allen Lebensbereichen spürbar. 2015 fielen laut offiziellen Ziffern die Reallöhne um neun Prozent, nachdem sie bereits 2014 um vier Prozent sanken. Natalia Zubarevich vom Unabhängigen Institut für Sozialpolitik spricht von einem "grundsätzlichen Niedergang der Lebensqualität" der russischen Menschen. Der Kleinhandel, früher ein Wirtschaftsmotor, schrumpfte zwischen November 2014 und November 2015 um 13 Prozent. Der Auslandstourismus fiel in der letzten Fremdenverkehrssaison um 30 Prozent, verglichen mit dem vorhergehenden Jahr.

Ähnlich düster sind die wichtigsten ökonomischen Signale. Das Bruttoinlandprodukt fiel 2014 um vier Prozent, während die Inflationsspirale bereits 13 Prozent erreichte. Offiziellen Angaben zufolge stieg die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, 2015 um 2,3 Millionen auf 20,3 Millionen. Jeder Siebte lebt also unter der Armutsgrenze. Da das Staatsbudget für 2016 von einem Ölpreis von 50 Dollar je Barrel ausging, bedeutet der Verfall des Ölpreises drastische Einsparungen in allen Sektoren – außer Militär und Rüstung.

Der Aufwand für die Annexion der Krim, für das Engagement in der Ostukraine und für den Militäreinsatz in Syrien ist natürlich auch hoch. Beobachter rechnen mit einer Steigerung des Defizits von geplanten drei Prozent des BIP auf mindestens sieben Prozent in diesem Jahr. Kein Wunder, dass der als gemäßigt geltende frühere Finanzminister Alexej Kudrin sowohl vor wie auch bei dem Weltwirtschaftsforum in Davos weitere drastische Sparmaßnahmen in Aussicht stellte. Präsident Putin behauptete allerdings im vorigen Herbst, dass "der Gipfel der Krise" vorbei sei. Für die Durchschnittsrussen bleiben die Zukunftsaussichten jedenfalls nicht gerade hoffnungsvoll.

Angesichts der Drosselung des Konsums und des Niedergangs des Lebensstandards erscheinen Putins fabelhafte Beliebtheitswerte von 85 Prozent (laut Levada-Meinungsforschungsinstitut) vielen Beobachtern unglaubwürdig. Doch weisen auch systemkritische russische Persönlichkeiten darauf hin, dass die fast totale Medienkontrolle durch den Kreml, ständige ausländerfeindliche Propagandakampagnen über finstere Verschwörungen und nicht zuletzt die brutale Unterdrückung oppositioneller Stimmen die öffentliche Einstellung zu Putin bisher zumindest maßgeblich geprägt haben. (Paul Lendvai, 25.1.2016)