55 Grad, 56 Minuten südliche Breite und 67 Grad, 19 Minuten westliche Länge: Hier, am südlichsten Zipfel des südamerikanischen Kontinents, wo Atlantik und Pazifik aufeinandertreffen, ankert die Stella Australis. Die Passagiere an Bord des Kreuzfahrtschiffes sind aufgeregt. Wird sich heute ein Lebenstraum erfüllen? Es ist ein stürmischer, kalter Nachmittag. Schneetreiben und blauer Himmel haben den ganzen Tag über im Streit miteinander gelegen.

Kapitän Navarro verkündet die frohe Botschaft: Poseidons Wellenmaschine fehlt es an Energie. Die Wetterverhältnisse machen es möglich, anzulanden auf dem Eiland, dessen Name Legende ist. Ein Mythos für Besucher aus der ganzen Welt. Der bunte Haufen Weltenbummler – Australier, Europäer, Nord- und Südamerikaner – ist fest entschlossen, die chilenische Insel zu betreten. Sie ist bis heute weitgehend touristische Terra incognita.

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Kap Hoorn: ein einsamer Außenposten Chiles

Die Passagiere haben sich an Deck versammelt. Verpackt in Thermohosen und knallroten, dick gefütterten Sicherheitsjacken geht es in kleinen Gruppen los: Start der Expedition, wie die Ausflüge in den robusten Zodiacs des Kreuzfahrtschiffes heißen. Wie Hühner auf der Stange drängen sich jeweils zehn Vermummte auf den Gummiwülsten, der Mann am Steuer dreht den Außenborder auf. Ein dünner Schleier aus eisigem Meerwasser überzieht die Abenteurer.

Am Strand werden sie bereits von Magellan-Pinguinen erwartet, die übers karge Gras watscheln oder sich auf sonnengewärmten Felsen räkeln. Es geht eine knapp 250 Meter hohe Holztreppe bis zu einem Aussichtspunkt hinauf: Ringsherum erheben sich Hügelketten anderer Inseln, wie verloren liegt die Stella Australis in dieser ungeheuren Weite vor Anker. Von Kap Hoorn bis zur Antarktis sind es gerade einmal 900 Kilometer.

Keine Alternative

Glasklar ist die Luft rund um die zwölf Quadratkilometer große Isla de Hornos. Das Eiland wird durchkreuzt von schmalen Holzstegen, auf denen sich nun eine Schlange aus Menschen mit roten Westen fortbewegt. Alle wollen zum Monument am Kap, das Ende 2014 während eines Orkans teilweise zerstört wurde. Aus massiven, versetzt montierten Stahlplatten wurde ein Wanderalbatross ausgespart – im Gedenken an die zahllosen vor Kap Hoorn verunglückten Seeleute. "Früher glaubte man hier, dass die Seelen der toten Matrosen in Albatrossen weiterleben", sagt der chilenische Expeditionsleiter Francisco Cárdenas.

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Ein Bild aus besseren Zeiten: Das Monument am Kap vor dem Orkan.

Man schätzt, dass 10.000 Seeleute vor Kap Hoorn umgekommen und mehr als 800 Schiffe gesunken sind, seit dieser Seeweg vor 400 entdeckt worden ist. Am 29. Jänner 1616 hat der niederländische Seefahrer Willem Cornelisz Schouten auf einer Expedition der Hoorner Austraalse Compagnie das Kap als Erster gesichtet. Bis zur Fertigstellung des Panamakanals im Jahr 1914 galt der Weg um Kap Hoorn als die einzige Route, um den südamerikanischen Kontinent zu umschiffen. Eine Alternative gab es nicht, denn der Weg durch die weiter nördlich gelegene Magellanstraße war bedingt durch Enge und Gegenströmung für große Segelschiffe unpassierbar. Beim Kreuzen gegen den Wind benötigten sie viel Platz.

Irrtum um Inseln

Francisco Cárdenas ist Naturforscher und Vogelkundler. Nun steht der großgewachsene Chilene mit kroatischen Vorfahren vor dem Monument und korrigiert in seinem sonoren Bariton einen weitverbreiteten Irrtum: Kap Hoorn gilt landläufig als südlichster Punkt Südamerikas. Ganz korrekt ist das allerdings nicht, denn die menschenleeren chilenischen Diego-Ramirez-Inseln liegen noch 100 Kilometer weiter südlich. Aber was sind die schon im Vergleich zum legendären Hoorn?

Heute beherbergt die Isla de Hornos eine meteorologische Station, eine kleine Kapelle, einen Leuchtturm sowie ein Postamt – und sie ist bewohnt. Am Ende der Welt lebt ein Angehöriger der chilenischen Marine mit seiner Familie. Zwölf Monate lang trotzen sie der Einsamkeit und dem Wetter. "Hallo! Ich bin der Bürgermeister von Kap Hoorn, der südlichsten bewohnten Insel der Erde", begrüßt Juan Andrés Valenzuela Yañez seine Besucher im Postamt von Capo de Hornos.

Familie Yañez mit Pudel Melchor
Foto: Michael Marek

Der Offizier ist vom Beruf Telekommunikationstechniker, er hat feine Gesichtszüge und einen Hang zu subtiler Ironie. Eher würde man ihn sich in einer Universität erwarten als am Rande der Zivilisation. Zusammen mit seiner Frau Paula, dem zwölfjährigen Sohn Matias und Pudel Melchor lebt und arbeitet er hier. "Dabei dienen wir zwölf Monate unserem Heimatland Chile", sagt er pathetisch.

Zusammenhalten, um es auszuhalten

Yañez ist sichtlich stolz. Er und seine Familie kümmern sich um die meteorologische Station und leiten die Wetterdaten an die Schiffe weiter. "Außerdem halten wir fest, wer in dieser Gegend unterwegs ist." Jede Bewegung muss dem Militär gemeldet werden. Die Aufgabe des Offiziers besteht vor allem darin, chilenische Präsenz an diesem symbolträchtigen Ort zu demonstrieren. Denn zwischen Chile und Nachbar Argentinien schwelt ein alter Streit über den Grenzverlauf im südlichen Patagonien und auf Feuerland, das etwa 200 Kilometer entfernt liegt.

"Manchmal empfangen wir auch Besucher von Kreuzfahrtschiffen und erklären ihnen alles. Für uns ist es eine Ehre!" Hinter dem Tresen stehen Ehefrau Paula und Sohn Matias. Sie verkaufen Ansichtskarten, denn fast alle Besucher wollen von hier ein postalisches Lebenszeichen in die Heimat schicken – versehen mit dem begehrten Sonderstempel. Nebenbei verdient sich Familie Yañez mit dem Verkauf von Devotionalien wie Kap-Hoorn-Kaffeehäferln, T-Shirts oder bedruckten Wandtellern ein paar Pesos dazu. Zwischen April und Oktober, wenn es Winter auf der Südhalbkugel und auf Kap Hoorn noch stürmischer, noch verregneter ist, verirrt sich allerdings nur selten ein Kreuzfahrtschiff hierher.

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Am Anfang war seine Familie gar nicht begeistert von der Vorstellung, nur zu dritt weit entfernt von der Heimat zu leben. Aber jetzt lieben alle diesen Ort, die Natur, die Vögel, sogar den Wind, sagt Juan Yañez. "Wir haben gemeinsam entschieden. Hier kann man es nur aushalten, wenn alle zusammenhalten."

Das Leben auf Kap Hoorn verlangt Menschen einiges ab. Der nächste Arzt ist hunderte Kilometer entfernt, und bei einem Notfall kann der Hubschrauber aufgrund widriger Wetterverhältnisse nicht immer landen. Deshalb ist es eine Voraussetzung für diesen Job, dass man bereits am Blinddarm operiert worden ist. Auch die Zähne sollten bei allen Familienmitgliedern in gutem Zustand sein – man kann ja nie wissen. Außerdem mussten Juan und seine Frau eine Erste-Hilfe-Prüfung ablegen, um einander bei einem Unfall, einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder Vergiftung helfen zu können.

Maritimes und Kuscheltiere

Das Wohnzimmer von Familie Yañez erinnert an ein Museum für Maritimes. Überall hängen Fotos von Schiffen und grimmigen Männern mit zerzausten Bärten. Urkunden, Seekarten, Kompasse und nautischen Krimskrams füllen den Raum. Möbel habe man nicht mitnehmen können, sagt Juan, im Haus ist aber alles vorhanden: Waschmaschine, Fernseher, Fahrräder, eine Playstation. Jeder in der Familie hat zumindest ein paar persönliche Gegenstände oder Erinnerungsstücke mitgenommen – vor allem Fotos und Kuscheltiere.

Sohn Matias geht ein Jahr lang nicht in die Schule – das klingt doch wie das Paradies für jeden Jugendlichen? "Nein, ganz so ist es nicht. Papa ist mein Lehrer", sagt Matias. Das sei ein bisschen wie in der Schule, aber eben doch ganz anders. Und wie macht sich sein Vater, wenn er Unterricht gibt? "Mein Papa ist ein sehr guter Lehrer", sagt er und strahlt dabei, dass man ihm gerne glaubt.

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Die See muss ganz ruhig sein, um vom Kreuzfahrtschiff auf das Kap übersetzen zu können.

Fernsehen tun sie selten, der Empfang sei so la la, und bei gutem Wetter sind die vier ohnehin lieber im Freien. Manchmal langweilt sich Matias, dann vermisst er seine Freunde. Deshalb bringt jede Familie einen Hund mit. Ob seiner Frau und ihm selbst nicht hie und da der Besuch eines Restaurants oder eines Friseurs fehle? "Nein", kommt es von beiden wie aus der Pistole geschossen, "die Liebe zur Familie macht das wett." Gibt es manchmal Streit? "Liebe löst alles", sagen sie unisono. Wenn das Versorgungsschiff der chilenischen Marine die vor Wochen per Internet bestellten Lebensmittel anliefert, freuen sich schon alle auf einfache Dinge wie Tomaten oder Salat. Es sind Dinge, die eben nicht alltäglich sind, wenn man auf Chiles südlichstem Außenposten lebt.

Überraschender Besuch

Auf einmal wird der Expeditionsleiter der Stella Australis hektisch. Kapitän Navarro habe befohlen, Cabo de Hornos schnellstens zu verlassen, Wind und Seegang seien in den letzten Stunden stärker geworden. Eine letzte Anekdote will Juan Yañez aber noch loswerden, eine Episode aus dem Leben der einsamsten Familie der Welt, ehe die seltenen Besucher wieder aufbrechen: Eines Tages wären seine Frau und er "lieb zueinander" gewesen. Er sei danach aus der Dusche gestiegen und pudelnackt in den Verkaufsraum gegangen – warum auch nicht, Kunden sind sehr selten am Kap. "Ich kam also hier herein, und Sie glauben es nicht: Da standen zwei Dutzend Menschen in ihren Anoraks und Schwimmwesten vor mir und ließen ihre noch nicht bezahlten Postkarten fallen." Niemand hatte Familie Yañez darüber informiert, dass an diesem Tag ein Schiff anlegen wird.

Kap Hoorn ist einer der wenigen Orte, an dem die Industrielle Revolution, Kultur- und Religionskämpfe, heiße und kalte Kriege, Reichtum und Armut, Elend und Überfluss scheinbar spurlos vorbeigegangen sind. Und für manche Bewohner der Insel bedeutet es schon eine Überraschung, wenn sie dort angezogenen Menschen begegnen. (Michael Marek, Rondo, 29.1.2016)