Frühaufstehen ist heute zu einer Art Statussymbol geworden. Man prahlt nicht mehr mit dem Ferrari, sondern mit der eigenen Produktivität und Disziplin.

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Bei ihr klingelt der Wecker angeblich um vier Uhr: Pepsi-CEO Indra Nooyi.

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Jack Dorsey, CEO bei Twitter, gilt mit 05:30 als Weckzeit schon fast als Langschläfer.

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In ihrem Ratgeber "What the Most Successful People Do Before Breakfast" schrieb Laura Vanderkam, zu den 14 Dingen, die die erfolgreichsten Geschäftsleute tun, gehöre frühes Aufstehen. "Erfolgreiche Leute", formulierte Vanderkam, "wissen, dass Zeit ein kostbares Gut ist. Und während ihre Zeit schnell von Telefonanrufen, Meetings und von plötzlichen Krisen aufgefressen wird, wenn sie erst mal im Büro sind, sind die Morgenstunden unter ihrer Kontrolle. Das ist auch der Grund, warum viele von ihnen vor Sonnenaufgang aufstehen und so viel Zeit wie möglich herauspressen."

Die These ist empirisch belegt. In einer Umfrage, die Vanderkam unter 20 Topmanagern durchführte, gaben 90 Prozent der Befragten an, sie würden werktags vor sechs Uhr morgens aufstehen. Pepsi-Chefin Indra Nooyi steht morgens um vier Uhr auf. Disney-Vorstandschef Robert Iger hält es bis 4.30 Uhr im Bett. Jack Dorsey, der CEO von Twitter und Square, schläft immerhin bis 5.30 Uhr. Apple-Chef Tim Cook steht nach eigener Aussage um fünf Uhr im Gym, ehe er um 6.30 Uhr ins Büro fährt. Und David Cush, der CEO von Virgin America, sitzt um 4.15 Uhr schon auf dem Hometrainer.

Kult physischer Ausdauer

Was treibt Vorstandschefs so früh aus den Federn? "Jeden Morgen wacht man mit der gesunden Angst auf, dass die Welt sich ändert, und einer Überzeugung, dass man, um zu gewinnen, sich schneller verändern muss und agiler als jeder andere sein muss", sagte Pepsi-Chefin Nooyi demBusiness Insider. Topmanager drücken nicht auf die Snooze-Taste, sie starten ihren Tag früher. Ein Arbeitstag dauert zuweilen schon mal 16 Stunden. Doch woher kommt der "Kult der physischen Ausdauer", wie es der Economist in einem Artikel kürzlich treffend formulierte?

"Vorstandschefs neigen dazu, sehr getriebene Individuen zu sein, und wenn man das Ethos harter Arbeit, individuellen Exzeptionalismus und Fitness kombiniert, ist es nicht schwer, sich solche Szenarien vorzustellen", sagt Daniel J. Buysse, Psychiatrieprofessor an der University of Pittsburgh, auf Anfrage. Frühaufstehen ist heute zu einer Art Statussymbol geworden. Man prahlt nicht mehr mit dem Ferrari, sondern mit der eigenen Produktivität und Disziplin.

Glaubt man Vanderkam, haben Frühaufsteher mehr Kontrolle über ihren Alltag und Struktur im Leben. "Während Zeitmanagementgurus einem weismachen wollen, E-Mails so lange wie möglich beiseitezuschieben, starten viele erfolgreiche Leute ihren Tag mit E-Mails", sagt Vanderkam. Die Ratschläge wurden beim World Economic Forum (WEF) offiziell als Handreichung getwittert.

Gesundheitsschäden

Aber sind Frühaufsteher auch produktiver? Laut einer Studie des deutschen Biologen Christoph Randler sind sie zumindest aktiver. Er befragte 367 Studenten und identifizierte einen Zusammenhang zwischen Morgenmuffeligkeit und ihrem Selbstantrieb. Wer schon frühmorgens vor Energie sprühte, war auch den Rest des Tages aktiver – und womöglich produktiver. Bahnchef Rüdiger Grube reichen angeblich vier Stunden Schlaf, um am nächsten Tag fit den Konzern leiten zu können.

"CEOs und andere Leistungsträger nutzen kurzen Schlaf, um ihre Energie kurzfristig zu erhöhen", sagt der Schlafforscher Glenn S. Brassington im Gespräch mit dem STANDARD. "Langfristig zahlen sie aber einen Preis hinsichtlich ihrer Gesundheit." Der Grund: Wenn die Schlafphase verkürzt wird, schüttet der menschliche Körper mehr Stresshormone aus, um den Energiehaushalt aufrechtzuerhalten. "Diese Extraenergie kann für eine bessere Leistung genutzt werden, sie trägt aber auch zu einer Entwicklung stressverbundener physischer Symptome wie Gereiztheit bei." Die kurzzeitigen Produktivitätsgewinne neutralisieren sich durch langfristige Gesundheitsschäden wie Herzinfarktrisiko oder Bluthochdruck.

Untersuchungen zeigen, dass ein kleiner Prozentsatz derer, die weniger als fünf Stunden am Tag schlafen und die danach Zufriedenheit mit ihrem Schlafverhalten äußern, einen positiveren emotionalen Zustand zeigten als Langschläfer. Das würde erklären, warum mancher Vorstandschef "süchtig nach Euphorie und erhöhter Energie" werde. Kurzer Schlaf könne abhängig machen, warnt Brassington. Und das könnte auch Auswirkungen auf Entscheidungsprozesse haben.

Übernachtig

In den USA und Großbritannien gab es Debatten über die extreme Überstundenkultur ("all-nighter"), nachdem ein deutscher Praktikant in London an einem epileptischen Anfall gestorben war und 2015 ein 24-jähriger Berufseinsteiger bei Goldman Sachs in San Francisco tot auf einem Parkplatz aufgefunden worden war. Beide sollen zwei Tage in Folge nicht geschlafen haben.

Der Organisationssoziologe André Spicer bezeichnet Nachtarbeit als einen "Initiationsritus", den vor allem junge Banker über sich ergehen lassen müssen, bevor sie dem "Stamm" beitreten können. "Ein zentraler Wert in Bereichen wie Investmentbanking ist Wettbewerb. Unter Beweis zu stellen, dass man einen Härtetest wie nächtelanges Durcharbeiten bestehen kann, zeigt, dass man der Stärkste in der Gruppe ist", sagt Spicer auf Anfrage. Es ist eine Art natürliche Auslese. Nur die Härtesten schaffen es nach ganz oben. Und dieses Arbeitsethos kultivieren CEOs, wenn sie beiläufig in Hochglanzmagazinen erwähnen, dass sie nachts um halb fünf aufstehen. Das soll Produktivität und Stärke suggerieren. "Seht her, ich bin physisch fit, ich kann meine Bedürfnisse herunterregulieren." Doch in Wahrheit ist die Stärke eine Schwäche. Die schlaflosen Chefs betreiben Raubbau am eigenen Körper. Produktivität hat Grenzen. Vielleicht sollten sich das die Führungskräfte in ihr Stammbuch schreiben. (Adrian Lobe, 01.02..2016)