Claudia Erdheim gibt historischen Personen eine Stimme und erzählt vom Alltag im Unteren Werd.

Foto: Czernin

Sie packen ihr Hab und Gut in Kisten, in Bündel, alles auf Wagen und Esel und verlassen unter Jubelgeschrei der Christen (...) ihre Wohnungen und Zimmer auf dem Kienmarkt, im Judengässl, auf dem Bauernmarkt oder im Kochgässl."

Per kaiserliches Dekret werden die Wiener Juden im Jahr 1624 aufgefordert, die innerhalb der Stadtmauer gelegenen Gebiete zu verlassen und sich im Unteren Werd, der jetzigen Leopoldstadt, anzusiedeln. Mit der Beschreibung der Überquerung der Brücke über die Donau an einem kalten Dezembertag setzt die Handlung der Erzählung In der Judenstadt ein: Familien mit ihren Besitztümern, mit Alten, Gebrechlichen und Kindern sind auf dem Weg. Auf den folgenden rund 140 Seiten porträtiert Claudia Erdheim Leben und Alltag der Wiener Jüdinnen und Juden in den Jahren 1624 bis 1670.

Aus der Masse an Menschen, die an diesem Dezembertag die Donau überqueren, hebt Erdheim Lena Gerstl, mit dem Tuchhändler Jocham verheiratet, hervor: "Sie ist eine kleine zierliche Person, modisch gekleidet nach Art christlicher Eheleute, mit goldenen Ketten und Ringen so kostbar und elegant, dass man sie von christlichen Frauen nicht unterscheiden kann."

Gekonnt verknüpft die Autorin über die Protagonistin Lena die Ereignisse der großen Geschichte, die das Leben der Wiener Jüdinnen und Juden bestimmen, mit wichtigen Wegmarken im Leben einer Ehefrau und Mutter: Acht Kinder gebiert sie, während ihr Ehemann Jocham zumeist auf Reisen ist, sie kümmert sich um Verwandte, pflegt Kranke und verdient ihr eigenes Geld. Auf sich allein gestellt, muss sie immer wieder Entscheidungen für sich selbst und ihre Familie treffen.

In den Lebensentwürfen jener Menschen, die mit Lena verbunden sind, ihren Kindern und Verwandten, skizziert die Autorin die Vielfalt der Wiener jüdischen Gemeinde im 17. Jahrhundert. Zugleich werden auch die Bruchlinien zwischen traditionellen Gesellschaftsnormen und individuellen Lebensweisen deutlich. Liebesverhältnisse zwischen Juden und Christen werden hart bestraft, auf beiden Seiten des Grenzsteins. Das Übertreten halachischer Gesetze wird von rabbinischen Gerichten geahndet, oft ist ein Ausschluss aus der Gemeinde mit allen Konsequenzen die Folge.

Konkrete Lebensgeschichten

Wie nebenbei gelingt es Erdheim, über die Figur des Arztes Elia Chalfan das Wissen um medizinische Praktiken, Hausmittel und Volksglauben aus dieser Zeit an konkrete Lebensgeschichten rückzubinden. Im Wien des 17. Jahrhunderts liegen Krankheit und Tod nah beieinander und treffen die jüdische wie die nichtjüdische Bevölkerung gleichermaßen. In den jüdischen Medikus setzen auch die Christen große Hoffnungen. Sie kommen in die Judenstadt, um ihn zur Hilfe zu holen, wenn kein christlicher Arzt mehr Rat weiß: "Man hat ihr gesagt, in der Judenstadt gibt es einen Arzt, der wahre Wunder wirken kann, für alles hat er eine Arznei. In den hebräischen Büchern gibt es Kräuter und Wurzeln, die den christlichen Ärzten gänzlich unbekannt sind. Man sagt, er hat noch einige Rezepte vom König Salomon."

Besonders eindrücklich heben sich die Dialoge aus der Erzählung ab, holen die Ereignisse in die Gegenwart des Lesers und geben historischen Personen eine Stimme. Neben den Gesprächen sind auch Auszüge aus Erlässen und Gesetzestexten in die einzelnen Episoden eingewoben und machen deutlich, wie sehr das Leben und Wohl der Wiener Juden an wechselnde Machtverhältnisse sowie Ereignisse im Kaiserhaus selbst gebunden ist.

Alltag im Unteren Werd

So erzählt dieses Buch einerseits von jenen Momenten, die existenzielle Bedrohungen für die Jüdinnen und Juden darstellen: Überschwemmungen, Seuchen, aber auch Ausschreitungen der nichtjüdischen Bevölkerung gegen Jüdinnen und Juden sind Teil des Alltags im Unteren Werd. Andererseits zeichnet Erdheim das Bild einer stark wachsenden und prosperierenden Gemeinde, die sich zu einem neuen Zentrum für Handel und Gelehrsamkeit entwickelt. Wichtige Handelsrouten führen durch Wien, mit den vor Chmelnyzkyj fliehenden Juden aus dem Osten kommen bedeutende Gelehrte in die Judenstadt.

Mit ihrer gut recherchierten Erzählung In der Judenstadt gelingt es Claudia Erdheim, nicht nur die tragische Lebensgeschichte Lena Gerstls, sondern auch Personen und Ereignisse, die die jüdische und österreichische Geschichte verbinden, in die Gegenwart zu holen. Es ist ein lesenswertes Buch für alle, die ein längst vergessenes Stück österreichischer Geschichte an gut bekannten Orten entdecken und erlesen wollen. (Marianna Windsperger, Album, 29.1.2016)