Auf der Nordkette in Innsbruck werden regelmäßig kleine Snowskatecontests veranstaltet. Die Teilnehmer sind verdutzte Blicke gewohnt: Ihr Sportgerät ist weitgehend unbekannt.

Foto: Tom Bause

Beim Snowskaten geht es um Balance, es geht um motorische Feinheiten.

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Innsbruck – Pontisches Gebirge, Nordanatolien, 2008: Ein siebzigjähriger Türke steht auf einem Holzbrett im Schnee und grinst. Er geht in die Knie, lehnt sich zurück, schreit etwas Unverständliches, das wie ein Kampfruf klingt – und gleitet sanft den Hang hinunter.

Danach berichtet er nüchtern: Dieser Sport sei eine mehr als 400 Jahre alte Tradition in seinem Bergdorf. Sein Vater habe ihm beigebracht, wo man passendes Holz findet, wie man es vernagelt, wie man darauf im Tiefschnee Balance hält. Der wiederum habe das von seinem Vater gelernt. "Natürlich fällst du einige Male hin, bevor du das kannst, aber wenn du es erst kannst, bist du ein Pilot, du fliegst im Schnee", sagt Selim.

Skateboard mit Ski

Diese Szenen stammen aus einem Snowboardvideo von O'Neill. Der amerikanische Sportbekleidungshersteller hat dafür ein paar coole Jungs aus der Boarderszene ans letzte Ende der Türkei geflogen, damit sie Selim andächtig lauschen und im anatolischen Schnee ein paar ihrer Tricks vorführen. Kernbotschaft der Marketingaktion: Snowboarden, das ist ein Lebensgefühl, das Männer schon seit Hunderten von Jahren glücklich macht – und die Wiege des jung geglaubten Sports sei das Osmanische Reich.

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Bloß, nimmt man es genau, dann stimmt das nicht ganz. Eigentlich sind Selim und seine Ahnen Vorreiter einer anderen, ganz eigenen, Spielart des Boardens.

Nordkette, Innsbruck, 2016: David Reinthaler steht auf einem Brett im Schnee und grinst. Die Skifahrer und Snowboarder, die an diesem bewölkten Tag auch gekommen sind, um den Neuschnee zu testen, werfen ihm verdutzte Blicke zu. Der Grund ist Reinthalers Sportgerät: ein Skateboard, von dem die Rollen abmontiert wurden, stattdessen ist darunter ein kurzer Monoski angeschraubt. Wie der Türke Selim fährt Reinthaler ohne Bindung. Nur eine Schnur hält das Brett und ihn im Fall eines Sturzes zusammen.

Snowskating. So nennt man das, was Reinthaler tut, in Innsbruck und anderen alpinen Regionen Europas. "Der Sport schaut nur extrem aus. Man wird nicht so schnell wie auf einem Snowboard und kann jederzeit abspringen, dadurch ist die Verletzungsgefahr geringer. Deshalb ist das auch was für ältere Leute oder wenn man Kinder hat und auf kleinen, flachen Hängen trotzdem Spaß haben will", erklärt er.

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Reinthaler, Dreitagebart, Kapuzenpulli, freundliche Augen, ist 34 Jahre alt. Nach der Matura zog der Steirer nach Innsbruck. "Um neben dem Snowboarden ein bissl zu studieren", wie er sagt. Er fuhr Bewerbe, war kurz davor, in die Profiklasse aufzusteigen. "Es hat nicht ganz geklappt." Heute kann er sich dennoch zweifacher Weltmeister nennen – im Snowskaten.

Jux und Tollerei

Um die Jahrtausendwende stand er zum ersten Mal auf so einem Brett. Der Snowboardhersteller Burton hatte seinen Mitarbeitern damals zu Weihnachten Snowskates geschenkt – nur so als Jux, im Sortiment hatte sie das Unternehmen damals nicht. Am Rande von Snowboardcontests konnte man "die Dinger mal ausprobieren", erinnert sich Reinthaler. "Der Sport vereint Skaten, Snowboarden und Surfen." Er hat sich sofort verliebt.

Durchgesetzt hat sich das Produkt Snowskate nie. Boardbranchenprimus Burton hat zwar kurzzeitig versucht, auf dem Markt damit Fuß zu fassen, ist jedoch kläglich gescheitert. So wie auch eine ganze Reihe anderer Hersteller. "Heute besteht die Szene hauptsächlich aus Freaks, die in der Garage ihre alten Skateboards zerlegen und sich daraus Snowskates basteln." Die Einzelteile, aber auch fertige Bretter lassen sich online bestellen.

Unter den Snowboardpionieren der Neunzigerjahre hat der Sport allerdings Kultstatus. Die norwegische Legende Terje Haakonsen sieht man auf Youtube inzwischen öfter auf dem Snowskate tricksen als auf seinem angestammten, dem festgeschnallten Brett. Er veranstaltet seit 2011 die jährlichen "Weltmeisterschaften", aus denen Reinthaler 2012 und 2013 in Oslo als Sieger hervorging. Der ist da allerdings bescheiden: "Das ist halt so eine Session, an der 35 Leute teilnehmen."

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Reinthaler veranstaltet inzwischen selbst Snowskatecontests und ist dabei, einen offiziellen Verband für den Nischensport zu gründen. "Weil wir eine stärkere Lobby brauchen", sagt er. Die Exoten stoßen derzeit nämlich nicht überall auf Gegenliebe: Viele Liftbetreiber verweigern Snowskatern den Transport – vor allem in Tirol. Denn das dortige Seilbahngesetz verbietet die Mitnahme von Wintersportlern, die nicht fix an ihrem Gerät befestigt sind. "Die Leine verbindet uns doch aber", insistiert Reinthaler.

Weder höher noch weiter

Citius, altius, fortius – das im Extremsport allgegenwärtige Mantra, dass alles schneller, höher, weiter sein muss, verliert beim Snowskaten seine Gültigkeit. "Es ist nicht der weiteste Sprung oder die höchste Klippe, die zählt, die Herausforderung ist eine andere", sagt Reinthaler. Beim Snowskaten geht es um Balance, es geht um motorische Feinheiten. Der Fahrspaß braucht hier nicht viel: das Brett, einen beschneiten Hang, Zeit. "Die Größe der Szene ist schwer zu beziffern. Viele fahren einfach nur hinterm Haus im eigenen Garten."

Weil das Snowskate keine Bindung hat, ist es etwas schwieriger, Kantendruck aufzubauen. Daher wird bevorzugt auf Naturschneepisten oder Rodelbahnen geboardet. Der weichere Untergrund erleichtert dann das Manövrieren. Für Tiefschneefahrten bauen sich die sogenannten Cracks auch längere und breitere Skis unten dran.

Boarden bis zum letzten Tag

Snowskaten hat es nie ganz zum Trend geschafft. Die Boarderszene verlangt ständig nach neuen Superlativen, die diese etwas altherrige Disziplin einfach nicht liefern kann. Für Sponsoren ist der Sport deshalb kaum attraktiv. "Snowskaten ist eben das, was Snowboarden vor 20 Jahren war", sagt Reinthaler. Er meint damit: amateurhaft, rebellisch, ein bisschen anders. Das große Geld erwartet sich hier niemand. "Mir gibt es einfach dieses unvergleichliche Gefühl von Freiheit."

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In Anatolien sieht man das offenbar ähnlich. "Der Grund, warum wir das machen? Spaß, es ist einfach nur Spaß", sagt der Türke Selim. Als seine Großeltern jung waren, habe es in den Dörfern der Region keine Cafés gegeben. Skaten im Schnee, das sei deren einzige Freude gewesen. "Ich bin jetzt siebzig Jahre alt. Ich boarde bis zu meinem letzten Tag", sagt er. (Katharina Mittelstaedt, 1.2.2016)