Wien/EU-weit – Die Europäische Union könnte türkischen Staatsbürgern schon in den nächsten Monaten die visafreie Einreise erlauben. Eine Visaliberalisierung innerhalb eines Jahres sei "absolut realistisch", sagte EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn am Sonntagabend in der ORF-Diskussion "Im Zentrum". Eine der Bedingungen dafür sei, dass Ankara einem Rückübernahmeabkommen für Flüchtlinge zustimme.

Ermöglicht Rückstellung

"Das würde ermöglichen, dass Flüchtlinge, die nach Europa kommen, in die Türkei zurückgestellt werden können", sagte Hahn. Zugleich trat er Vorwürfen entgegen, die Europäische Union mache Ankara in der Flüchtlingskrise politische Zugeständnisse. Die EU werde bei den Menschenrechten oder im Kurden-Konflikt kein Auge zudrücken, und es werde auch nicht mehr als die avisierten drei Milliarden Euro an Unterstützung für Flüchtlinge in der Türkei geben.

Hahn warb zugleich für die umstrittene "Belebung" der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Gerade in der Menschenrechtsfrage seien die Beitrittsgespräche "der einzige Hebel", den die EU gegenüber Ankara habe. Deswegen werde nun auch das Grundrechtskapitel als Erstes eröffnet. Mit Blick auf die international kritisierte Inhaftierung von Journalisten in der Türkei stellte der Kommissar klar: "Natürlich wird das angesprochen, die Türken wissen ganz genau, dass das die Verhandlungen nicht nur beeinträchtigt, sondern aus meiner Warte unmöglich macht."

Reimon: Menschenrechte thematisieren

Mit Blick auf den eskalierenden Kurden-Konflikt sagte Hahn, er dränge gegenüber den türkischen Behörden auf eine humanitäre Lösung. Er rede den Konflikt "überhaupt nicht klein", sondern sehe ihn als "dramatische Belastung", reagierte der EU-Kommissar auf entsprechende Vorwürfe des Europaabgeordneten Michel Reimon (Grüne). "Wir sind dabei, einen großen und schweren Fehler zu machen", warnte Reimon vor einer weiteren Flüchtlingskrise bei einem Bürgerkrieg in den türkischen Kurdengebieten. Er forderte, Menschenrechtsfragen und den Kurden-Konflikt in den aktuellen Verhandlungen mit Ankara über die Flüchtlingskrise zu thematisieren.

Kritik an der EU-Politik übten auch der Politikwissenschafter Cengiz Günay und Çiğdem Akyol, APA-Korrespondentin in der Türkei. Günay sagte, dass die Menschenrechte in der Türkei aktuell so stark verletzt werden wie schon lange nicht mehr. "Zu diesem Zeitpunkt Beitrittsverhandlungen zu versprechen, ist ein Hohn." Akyol schlug in dieselbe Kerbe. Die Menschenrechte seien seitens der Europäischen Union "sehr wohl verhandelbar", kritisierte sie. Zugleich warf sie Ankara vor, Flüchtlinge als "Schachfiguren" und "Verhandlungsmasse" einzusetzen. Laut Akyol geht es Ankara nicht um Geld, sondern um politische Zugeständnisse, insbesondere die Visaliberalisierung.

Pessimistisch äußerte sich die Runde, was die Erfolgsaussichten des Flüchtlingsdeals zwischen EU und Türkei betrifft. "Die Menschen mit einer Handvoll Euro aufhalten zu wollen ist totaler Blödsinn", sagte der Pro-Erdoğan-Aktivist Fatih Köse. Kein Migrant werde wegen einer mit EU-Hilfe verbesserten Versorgung in der Türkei von seinen Migrationsplänen lassen. "Wenn ein Mensch es sich in den Kopf setzt, nach Europa zu kommen, dann macht er es." Ähnlich äußerte sich der ORF-Korrespondent in der Türkei, Jörg Winter: "Die Leute haben eine Vision", sagte er. Sie strebten nach einem besseren Leben in Europa.

Hahn betonte, dass das Geld nicht an die Türkei ausgezahlt, sondern "von uns, der EU, gemanagt" werde. "Es geht, wenn überhaupt, um drei Milliarden Euro und keinen Cent mehr", stellte der EU-Kommissar klar. Auch werde das Geld erst fließen, nachdem Ankara "erkennbare Maßnahmen" zur Verringerung des Flüchtlingsstroms gesetzt habe. Das sei "bisher ausgeblieben".

Zugleich warb Hahn dafür, dass die EU ihren Grenzschutz verbessere, um in eine "Position der Stärke" gegenüber Ankara zu kommen. "Es muss das oberste Ziel sein, unsere Außengrenzen zu sichern", betonte Hahn. Derzeit kämen nämlich nur "40 Prozent oder weniger" der aus der Türkei einreisenden Migranten aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Viele stammten etwa aus Marokko oder auch aus dem Iran. (1.2.2016)