François Hollande erntet für die Begnadigung von Jacqueline Sauvage Kritik.

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68 Jahre alt, weiße Haare und ein verschlossener Gesichtsausdruck hinter starker Brille: Jacqueline Sauvage ist keine auffällige Erscheinung – doch ihren Namen kennen alle Franzosen. Ihr Fall wühlte die Nation auf. 47 Ehejahre lang hatten sie und ihre vier Kinder in dem Dorf La Selle-sur-le-Bied bei Orléans "die Hölle" durchgemacht, wie sie vor Gericht erklärte. Ihr Mann, ein alkoholkranker Transportunternehmer, den Zeugen als brutal und pervers schilderten, schlug seine Frau, verging sich an den drei Töchtern und tyrannisierte den Sohn.

Auch an jenem Septembertag im Jahre 2012. Sauvage hatte Medikamente geschluckt und sich niedergelegt. Als sie aufstand, griff sie zum geladenen Jagdgewehr, suchte ihren Gatten auf der Terrasse, drückte die Augen zu und schoss ihm dreimal in den Rücken. Dann rief sie die Polizei an und teilte ihr mit: "Ich habe meinen Mann getötet."

Sohn hatte sich erhängt

Im Prozess begründete sie ihre Tat mit den Worten, sie habe die Gewalt gegen die ganze Familie nicht mehr ertragen. Bei ihrer Tat wusste sie noch nicht einmal, dass sich am Vortag ihr Sohn erhängt hatte, weil ihn der Vater zu einem Chauffeurjob in seinem Unternehmen zwingen wollte.

Im Gerichtsprozess trat das ganze Elend ihres Familienlebens zutage. Die Töchter Sylvie, Carole und Fabienne schilderten, wie sie sexuell missbraucht wurden, Jacqueline, wie sie regelmäßig Schläge einstecken musste.

Die Anwälte plädierten auf Notwehr, doch die Richter kamen zum Schluss, dass zwei Bedingungen dafür nicht erfüllt waren: Sauvage habe nicht verhältnismäßig und nicht als Reaktion auf eine unmittelbare Bedrohung reagiert, sondern überlegt und vorsätzlich. Das Verdikt lautete auf Mord. Das Berufungsgericht befand Ende 2014 sogar auf schweren Mord und verurteilte die Mutter zu zehn Jahren Haft.

Viermal auf der Notfallstation

In der Öffentlichkeit wogte die Debatte hoch auf. Frauenverbände berichteten, der Fall Sauvage sei nur die Spitze eines Eisbergs. Frankreich zähle jedes Jahr schätzungsweise 220.000 Opfer ehelicher Gewalt – meist Frauen; nur knapp ein Viertel traue sich aber auch, zur Polizei zu gehen. 2014 waren in Frankreich 134 Frauen von ihren Lebenspartnern umgebracht worden. Bezeichnend für den Fall Sauvage war zudem, dass die Mutter wegen Verletzungen durch ihren Mann viermal auf einer Notfallstation gelegen war, ohne dass ein Arzt die Behörden eingeschaltet hatte.

Im Parlament verlangen nun drei Dutzend Abgeordnete eine Revision des Notwehrrechts. Und im Internet forderte eine Petition die Begnadigung von Jacqueline Sauvage durch den Staatspräsidenten, wie es Artikel 17 der Landesverfassung zulässt.

François Hollande hatte sich früher aus prinzipiellen Gründen gegen das Gnadenrecht des Staatschefs ausgesprochen: Das sei ein Relikt des Ancien Régime und unvereinbar mit modernen Zeiten. Einmal im Amt, hatte Hollande allerdings 2013 einen Räuber begnadigt, der nach mehreren Ausbruchsversuchen 38 Jahre im Gefängnis verbracht hatte.

Töchter beim Präsidenten

Als die Sauvage-Petition 400.000 Unterschriften erreicht hatte, empfing er am Freitag die drei Töchter. Am Sonntagabend erließ er schließlich eine "teilweise" Begnadigung und reduzierte Jacqueline Sauvages Strafe um fünf Jahre, sodass die Verurteilte noch am Montag ihre bedingte Freilassung – wahrscheinlich im Sommer mit einer Fußfessel – verlangen konnte. Zuvor muss eine Kommission ihre "Gefährlichkeit" überprüfen.

Allerdings gibt es auch Kritik an Hollandes Entscheidung. Der bekannte Anwalt Pierre Bilger meinte, dies widerspreche der Gewaltentrennung zwischen Justiz und Politik. Auch folge Hollande lieber der Gefühlslage anonymer Internetpetitionäre als dem sorgfältig erarbeiteten Befund von Richtern und Juroren. "Hollande behauptet, er respektiere das Urteil der Justiz, aber das tut er gerade nicht", erklärte Bilger.

Das Gnadenrecht des Präsidenten geht auf monarchische Gepflogenheiten zurück. Noch in den 1970er-Jahren stand es dem Staatschef frei, sogar über Leben und Tod zu befinden. Expräsident Valérie Giscard d'Estaing gab kürzlich zu, bei den letzten drei Hinrichtungen durch die Guillotine – die letzte fand in Frankreich 1977 statt – gezögert zu haben. (Stefan Brändle aus Paris, 1.2.2016)