Ein von schweren Betonblöcken geschützter israelischer Soldat an einem Wachposten auf der Straße von Hebron nach Jerusalem. Immer wieder werden Mitglieder der israelischen Sicherheitskräfte Ziel von Anschlägen mit Messern oder mit Autos.

Foto: AFP / Menahem Kahana

"Wir haben Intifadas und so viele andere unruhige Zeiten durchgemacht, ich werde jetzt mein Leben nicht ändern", sagt Ayala Samir, Pensionistin aus dem Vorort Mevasseret Zion, die für Besorgungen nach Jerusalem gefahren ist. Schaut sie manchmal über die Schulter, um zu sehen, ob jemand mit einem Messer kommt? Stellt sie sich so hin, dass ein Autoattentäter sie nicht erwischen kann? "Daran habe ich gar nicht gedacht, aber jetzt, wo Sie fragen ..."

Fast täglich hören die Israelis in diesem Winter von einem neuen Anschlag. Aber in Jerusalem waren Stadtverwaltung und Schulkinder vorige Woche vor allem mit der Frage beschäftigt, ob es schneien würde. Man kann stundenlang durch die Straßen gehen, ohne einem bewaffneten Polizisten oder Soldaten zu begegnen. Nur in der Altstadt scheinen Wachmannschaften aktiver als früher. Beim Jaffa-Tor oder beim Damaskus-Tor fischen je drei Polizisten, das Gewehr in der Hand, ab und zu aus den Passanten einen palästinensischen Teenager heraus – er muss sich mit gespreizten Beinen nach vorne gegen eine Mauer stützen und wird durchsucht. Aus der Körpersprache ist klar: Die Polizisten rechnen damit, dass er ein Messer ziehen könnte.

Schwierig zu erfassen

Eine "dritte Intifada", mit oder ohne Fragezeichen, meldeten israelische Schlagzeilen im Oktober, als die zunächst vereinzelten Anschläge sich häuften. Ob man die Terrorwelle tatsächlich als Aufstand bezeichnen kann, ist schwer zu entscheiden. Denn es gibt kein einheitliches Muster.

Auslöser schien der Zorn der Palästinenser über vermutete Änderungen der Gebetsordnung auf dem Tempelberg zu sein. Aber dieses Motiv ist längst vergessen. Zunächst war Jerusalem Brennpunkt, dann Hebron, dann kamen Angriffe an Landstraßen im Westjordanland, in Großstädten wie Tel Aviv und Beer-Schewa, zuletzt auch im Inneren jüdischer Siedlungen. Die Angegriffenen waren zunächst Zivilisten, dann auch Soldaten. Die Waffen waren fast immer Messer, teils Fahrzeuge oder Gewehre. Einzelne Angreifer waren Angehörige palästinensischer Sicherheitskräfte oder arabische Bürger Israels, meist aber palästinensische Teenager.

Vorwurf der Exekutionen

Weil viele von ihnen bei ihren Anschlägen getötet wurden, werfen Palästinenser – aber auch ausländische Kritiker wie Schwedens Außenministerin Margot Wallström – Israelis "außergerichtliche Exekutionen" vor. "Es ist klar, dass das eine Hinrichtung war – er hätte ihr ja ins Bein schießen können", sagte ein Onkel der 13-jährigen Rokaya Abu Eid, die im Jänner am Tor der Siedlung Anatot mit einem Messer auf den Wächter zulief und erschossen wurde.

Viele Israelis finden die Vorwürfe absurd. Es gehe um Sekunden. Man habe das Recht, sich zu schützen: "Der Wächter hat sie mehrmals aufgefordert, stehen zu bleiben", so Doli Yariv, Sprecher der Siedlung, "schuldig sind die, die Kinder so erziehen, dass sie bereit sind, Selbstmord zu begehen."

Von einer Intifada kann man wohl noch nicht sprechen, schon deswegen, weil es sich um spontane Einzelaktionen handelt und die bewaffneten Palästinenserorganisationen vorerst zuschauen. Das macht den Umgang mit der Gefahr schwierig. Terrorgruppen könne man auskundschaften, aber "bei den 101 Messerangriffen bisher hatten wir kein einziges Mal irgendeine Vorwarnung", sagt Israels Armeechef Gabi Eisenkot.

Zwickmühle für Abbas

67 Prozent der Palästinenser befürworten die Messerattacken, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts PSR im Dezember. In Politikerreden, im TV und auf Facebook-Seiten der Fatah-Partei werden Angreifer als "heroische Märtyrer" gefeiert und betrauert. Zugleich wird die These verbreitet, Israelis würden Attacken fingieren, Palästinenser grundlos erschießen und ein Messer neben die Leiche legen. Viele Palästinenser scheinen das zu glauben, trotz unzähliger Aufnahmen von Überwachungskameras.

In einer heiklen Position ist dabei Mahmud Abbas. Der unpopuläre Palästinenserpräsident kann sich nicht offen gegen die Angriffswelle stellen – deshalb spricht er beschönigend von einem "friedlichen Volksaufstand". Zugleich setzen seine Sicherheitskräfte diskret die Zusammenarbeit mit israelischen Kollegen fort. Diese bestätigen, dass die Palästinenserpolizei gut 200 Anschläge verhindert habe. Für Abbas wäre es ein Albtraum, wenn es Hamas-Zellen im Westjordanland gelänge, die "dritte Intifada" loszutreten. (Ben Segenreich aus Jerusalem, 4.2.2016)