Die Argumente von Hugo Portisch übernehmend, hat Hans Rauscher in seiner Wochenendkolumne (Standard, 23./24. 1. 2016) die Ansicht vertreten, man müsse Afrika retten, um Europa zu retten. Um dies zu bewerkstelligen, fordert er die Einrichtungen eines "Marshallplans" für Afrika, ein großzügiges Aufbauprogramm analog zum US-amerikanischen Engagement in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. An diesen Überlegungen stimmt so manches nicht.

Den beiden führenden Journalisten ist als Zeitzeugen des politischen Geschehens in Europa wohl entgangen, dass es diese Art von Marshallplan schon längst gibt. Seit Jahrzehnten. Genau gesagt seit 1959. Das Ding nennt sich Europäischer Entwicklungsfonds (EEF), und es ist das zentrale Hilfsinstrument der Europäischen Union bei der Zusammenarbeit mit den Staaten Afrikas.

Der aktuelle elfte EEF stellt über 30 Milliarden Euro schwerpunktmäßig für die Staaten in Subsahara-Afrika zur Verfügung. Zusammen mit anderen EU-Finanzinstrumenten (insbesondere den Zuwendungen an die nordafrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik) und der von den EU-Mitgliedstaaten direkt geleisteten sonstigen Entwicklungshilfe für Afrika ergibt das jährlich über 20 Milliarden Euro zu Förderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums.

Experten weisen darauf hin, dass genügend Finanzmittel für Afrika zur Verfügung stehen. Das Problem liegt vielmehr darin, dass es einfach zu wenig sinnvolle Projekte gibt. Nicht das Geld fehlt, sondern die Ideen.

Verklärte Rückschau

Die Analogie "Marshallplan" hinkt auch an anderer Stelle: Dieser war als Wirtschaftswiederaufbauprogramm für Europa konzipiert, das an den Folgen des Zweiten Weltkriegs litt. Dieser Wiederaufbau unterscheidet sich fundamental von den mannigfaltigen Herausforderungen des Gesamtkontinents Afrika. Zum Anschub des legendären Wirtschaftsaufschwungs in Westeuropa trug der Marshallplan bei, allein verantwortlich war er keineswegs. Auch hier verklärt wohl eher die historische Rückschau der beteiligten Personen die Realität.

Es stellt sich auch die grundsätzliche Frage, welches "Afrika" Hans Rauscher und Hugo Portisch denn überhaupt retten möchten. Etwa das Afrika eines Präsidenten Jammeh, der Gambia im Dezember zu einem islamischen Staat ausrief und schon ein Jahrzehnt davor die Verfassung so änderte, dass er als Präsident unbegrenzt wiedergewählt werden kann? In den letzten Jahren häufen sich Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen in Gambia, unter anderem über Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und die Verfolgung von Homosexuellen.

Oder soll lieber das Afrika eines Sebat Efrem gerettet werden? Er ist Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber in Eritrea – dem "Nordkorea" Afrikas. Die EU hat jüngst beschlossen, dem autokratisch regierten Eritrea mit immerhin 200 Millionen Euro bei der Bekämpfung von Fluchtursachen zu helfen. Eritrea ist nämlich nach Syrien und Afghanistan eines der bedeutendsten Herkunftsländer von Asylbewerbern.

Das Geld für diese eigenwillige Kooperation stammt übrigens aus dem 1,8 Milliarden Euro schweren EU-Fonds, der zur Bekämpfung von Fluchtursachen im November beim Treffen in Valetta mit großem Tamtam aus der Taufe gehoben wurde.

Oder doch lieber das Afrika eines Yoweri Museveni? Immerhin seit 1986 Präsident von Uganda. Das frühere Liebkind der österreichischen Entwicklungspolitik legt zwar in letzter Zeit zunehmend eigenwillige Verhaltensweisen an den Tag. Aber er hat zumindest die Grundlage für die spätere Verfassung während seines Exils im österreichischen Unterolberndorf geschrieben.

Gut zureden hilft nicht

Auch die Beweggründe, warum Afrika eigentlich gerettet werden müsse, bleiben vage. Einziges erkennbares Argument von Rauscher: Um die Migration von Millionen aus Afrika nach Europa zu unterbinden, "ist es vielleicht besser, eine Politik der vorbeugenden Investition zu versuchen". Geld und Investitionen, um Migration zu verhindern? Das klingt eher nach Verzweiflung als nach einer durchdachten Vorgangsweise. Glaubt denn wirklich noch irgendjemand, dass man mit "Gut-Zureden" und Investitionen eine Einstellungsänderung bei afrikanischen politischen Eliten erwirken kann?

Wer das glaubt, hat die letzten Jahrzehnte des Soft-Power-Konzepts der EU verschlafen. Das Konzept hat seine Praxistauglichkeit zunehmend nicht unter Beweis gestellt. Wenn es tatsächlich darum geht, europäische (Sicherheits-)Interessen durchzusetzen (und nichts anderes ist das Verhindern von unkontrollierter Migration), dann braucht es keinen "Marshallplan". Dann ist Interessenwahrung durch Intervention angesagt.

Das bedeutet dann aber auch klare Definition der angestrebten Veränderung, (geo)politische Strategien, Festlegung der Interessenzonen und schließlich zeitlich sowie örtlich begrenzte Intervention zur Durchsetzung dieser Interessen. Dann würde tatsächlich "Europa gerettet, indem man Afrika rettet". Das hat aber wirklich nichts mehr mit nostalgischem Wiederaufbau-Marshallplan-Retro-Chic zu tun. Das ist dann vielmehr der Beginn eines "liberalen Imperialismus". (Stefan Brocza, 4.2.2016)