"Dass sich unter den tausenden Flüchtlingen ein paar Terroristen reinschmuggeln könnten, ist schon möglich." Oberrabbiner Eisenberg appelliert trotzdem an "Herz und Hirn".

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STANDARD: Der Alltag ist trist, erzählen Sie uns einen jüdischen Witz?

Eisenberg: Zwei Leute streiten, sie gehen zum Rabbiner. Er hört den einen an und sagt: Du hast recht. Dann hört er den anderen an und sagt: Du hast recht. Dann kommt die Frau des Rabbiners herein und sagt: Das geht nicht, die können ja nicht beide recht haben. Sagt der Rabbiner: Und du hast auch recht.

STANDARD: Wie oft müssen Sie diesen Witz derzeit erzählen, um die Stimmung Ihrer Gemeinde zu heben?

Eisenberg: Täglich mehrere Male. Der wahre Kern der Anekdote ist: Meist hat niemand zu hundert Prozent recht. Das will aber niemand anerkennen, und dadurch kommt es nicht zum Kompromiss. In der Politik unterstützen einander jene, die nicht so sehr auf Frieden stehen wie ich, indem sie so extreme Gegenpositionen haben, dass nur extreme Antworten kommen können.

STANDARD: Wie bricht man das auf?

Eisenberg: Ein Rabbiner sagte einmal, er wolle Frieden auf der ganzen Welt stiften. Abends, allein, sagte er sich: Das ist aber ein sehr großes Projekt. Vielleicht genügt Österreich. Dann sagte ich – er, nicht ich: Vielleicht gelingt es mir ja in Wien. Auch zu groß. Dann die eigene Familie – auch schwierig. Am Ende beschloss der Rabbiner, Frieden mit sich selbst zu schließen. Das war schwierig genug. Es gibt ja Leute, die in der Öffentlichkeit salbungsvoll sprechen und zu Hause unausstehlich sind. Und ich werde Ihnen nicht sagen, ob ich das bin.

STANDARD: Was sind denn Ihre Schwächen?

Eisenberg: Alles. Ich bin zwar friedensbewegt, aber manchmal ein wenig aufbrausend. Aber daran muss man arbeiten. Maimonides, der berühmte jüdische Religionsphilosoph, hat einmal gesagt, man müsse in seiner Mitte sein. Wenn man merkt, dass man zum Beispiel sehr stolz ist, sollte man daran arbeiten, dass man bescheiden wird – selbst, wenn man nicht davon überzeugt ist. Indem man sich bemüht, kommt dann vielleicht auch die Überzeugung, dass Bescheidenheit besser ist.

STANDARD: Ihr zweiter Vorname Chaim bedeutet Leben. Was werden Sie mit dem Rest dieses Lebens machen?

Eisenberg: Noch mehr leben. Nebenbei heiße ich Paul. Bei uns ist es ja üblich, dass man nach Verstorbenen benannt wird. Der einzige Bruder meiner Mutter, der in der Shoah umgekommen ist, hieß Paul. Mein Großvater väterlicherseits hieß Chaim, er kam 1948 aus familiären Gründen nach Wien, und dort hat man gleich einen Deutsch sprechenden Rabbiner gebraucht – so war das.

STANDARD: Sie beenden im September Ihre Tätigkeit als Wiener Oberrabbiner. Kann ein Rabbiner überhaupt in Pension gehen?

Eisenberg: Rabbiner ist ein Titel, den man sich durch Prüfungen erworben hat, daher bleibt man das für den Rest des Lebens, muss aber nicht in dieser Funktion tätig sein. Ich habe mir gesagt: Was der Papst kann, kann ich auch.

STANDARD: Nun werden Sie aber von Arie Folger abgelöst. Sie sagten einmal, nach dem Talmud werde der Rabbiner immer klüger, je älter er sei. Wurden Sie der Kultusgemeinde zu klug?

Eisenberg: Gemeint war nicht, dass der Rabbiner von alleine klüger wird, sondern weil er viel lernt. Ich lerne täglich, dass es gescheiter ist, kompromissbereit zu sein.

STANDARD: Ist das Modell des abwägenden Rabbiners heute nicht mehr erwünscht?

Eisenberg: Von den Mitgliedern der Kultusgemeinde schon, aber nicht unbedingt von allen Rabbinern. Als (der israelische Ministerpräsident Yitzhak) Rabin ermordet wurde, habe ich meine fertige Jom-Kippur-Rede weggelegt und eine neue geschrieben, mit dem Ideal: Versöhnung ist nicht nur eine innerjüdische Sache, sondern auch darüber hinaus. Ich war überzeugt, alle anderen Rabbiner hätten das auch so gemacht – und war ein bisschen enttäuscht, als ich drauf kam, dass nicht alle so denken. Wie man sieht, ist das bis heute nicht anders.

STANDARD: Scheiden Sie im Guten oder im Halbguten von IKG-Präsident Oskar Deutsch?

Eisenberg: Im Guten. Bei längst gelösten Problemen ging es um Einmischungen von außen. Uns Juden gibt es in allen Ländern, und vielleicht habe ich das Rabbinat in einer Weise geführt, die nicht überall allen gefallen hat.

STANDARD: Ihr Nachfolger ist nicht bei allen beliebt.

Eisenberg: Er ist eine Persönlichkeit mit vielen Facetten, ich kommentiere das nicht. Möglicherweise habe ich die Zügel zu stark schleifen lassen und er wird es anders machen. Ihn sofort als Hardliner zu bezeichnen wegen des einen oder anderen Ausspruchs, das sehe ich nicht so.

STANDARD: Manche fürchten, durch die vielen muslimischen Flüchtlinge nehme auch der Antisemitismus zu.

Eisenberg: Ich bin nicht so egoistisch, dass ich das Flüchtlingsproblem unter dem Aspekt des Antisemitismus sehe. Dass sich unter den tausenden Flüchtlingen ein paar Terroristen reinschmuggeln könnten, ist schon möglich, aber ich glaube, man muss das Flüchtlingsproblem mit Hirn und Herz betrachten.

STANDARD: Ist der nichtmuslimische Antisemitismus angestiegen?

Eisenberg: Wenn man die Vorfälle zählt, wahrscheinlich schon. Aber irgendwie habe ich nicht wirklich Angst, dass Vorkommnisse wie in der Shoah wieder passieren könnten.

STANDARD: Es gibt Wiener Juden, die ans Auswandern denken, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen.

Eisenberg: Das ist ein europäisches Problem, in manchen Ländern ist es viel schlimmer als in Österreich – zum Beispiel in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Ungarn. Es ist schon unangenehm geworden. Aber es ist zu einfach zu sagen, dass die Feinde unserer Feinde unsere Freunde sind: Es gibt von der extremen Rechten antiislamische und antisemitische Aussagen. Ich unterscheide stark zwischen Islam und Islamismus.

STANDARD: Die Kultusgemeinde wuchs durch Zuwanderung stark an. Ist die IKG ein Vorzeigemodell für gelungene Integration?

Eisenberg: Schon vor dem Ersten Weltkrieg kamen viele Juden aus dem Osten nach Wien. Die westlichen Juden haben sich intellektuell überlegen gefühlt. Dafür haben die Ostjuden gesagt: Die Juden im Westen sind kalt wie ein Eisblock, wir bringen Freude und Herzlichkeit. Es hat sich bald herausgestellt, dass neben der Kälte das soziale Gewissen gewonnen hat. Man hat die Leute integriert.

STANDARD: Gelingt das auch heute mit den Juden aus der ehemaligen Sowjetunion?

Eisenberg: Es gibt Synagogen, Schulen, da entsteht keine Parallelkultur. Auch wenn es in der Religionsausübung Unterschiede gibt: Die sefardischen Juden aus der früheren Sowjetunion haben gesagt, sie brauchen eigene Gebetshäuser. Das haben wir verstanden: Integration kann nur dann klappen, wenn man das, was die Leute mitbringen, nicht sofort abschneidet. Wir haben gesagt: Okay, wir machen euch ein Zentrum mit einer Synagoge. Da gab es Beschwerden: "Wir brauchen aber drei Synagogen, wir sind usbekische, georgische und kaukasische Juden, und wir beten alle anders." Wir haben es dann geschafft, dass in dem Sefardischen Zentrum zwei Synagogen drin waren, und die kaukasischen Juden haben später ihre eigene Synagoge bekommen. Jemanden mit der Wurzel ausreißen – das geht nicht. (Maria Sterkl, Petra Stuiber, 6.2.2016)