Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat die entscheidende Einsicht zur Flüchtlingskrise geäußert: "Das ist unser Rendezvous mit der Globalisierung, ob uns diese Begegnung nun gefällt oder nicht."

Schäuble trifft damit genau den Kern: Die Welt von Pakistan bis Nord-und Westafrika ist in einem Jahrhundertaufruhr, und der wohlhabende Westen wird damit umgehen müssen (nicht nur Europa, aber vor allem Europa, da die USA unter Obama sich verabschiedet haben). Das bedeutet unabweislich: Es wird sich für Europa viel ändern. Materiell, sozial, kulturell.

Die Ironie daran ist, dass Schäuble in der deutschen Diskussion als der geführt wird, der Angela Merkel ablösen könnte, falls sie über ihre – angeblichen – Fehler in der Flüchtlingsfrage stürzt.

Die konventionelle Weisheit zwischen Gerhard Schröder und Sebastian Kurz besagt ja, dass Merkel sich von ihrer pfarrhausgeprägten Gefühlsduselei hat überwältigen lassen, als sie die deutschen Grenzen für die syrischen Flüchtlinge öffnete. Eine andere Denkvariante, die unter einigen Beobachtern ihre Anhänger hat, lautet aber: Das ist ihr nicht (nur) passiert, sie hat sozusagen als beinahe Einzige eine geopolitische Kontinentalverschiebung erkannt und als beinahe Einzige darauf flexibel reagiert. Sie hat das "Rendezvous mit der Globalisierung" eingehalten.

Deutschland ist Europas – wohlwollender – Hegemon. Ein Hegemon kann es sich nicht leisten, eine strategische Herausforderung, und das sind eben der nahöstliche Staatszerfall und seine Folgen, nicht anzunehmen. Konkret heißt das zunächst einmal, Merkel konnte in einer akuten Notsituation nicht so bösartig-kurzsichtig handeln wie der ungarische Potentat Viktor Orbán. Deutschland hatte/hat zu bedenken, was passiert, wenn es die Grenzen zumacht: Der "positive Dominoeffekt" (Copyright Sebastian Kurz) würde ganz Südosteuropa, beginnend und inklusive Österreich bis Griechenland, destabilisieren. Was hätten z. B. im Herbst die Österreicher gemacht, wenn sich bei ihnen Hunderttausende aufstauen?

Merkel entschied sich für die Übernahme von Verantwortung. So wie sie sich in der Eurokrise für die Übernahme von Verantwortung entschieden hat und 2008 mit einer kühnen "Die Spareinlagen sind gesichert"-Aussage einen europaweiten Bankencrash verhinderte; so wie sie mit "tough love" für das irresponsable Griechenland einen negativen Dominoeffekt verhinderte; so wie sie mit Beharrlichkeit die Aggression Putins in der Ukraine eindämmte.

Drei Megakrisen halbwegs gemanagt, mit einer Nervenstärke, vor der man nur beeindruckt sein kann. Die vierte Großkrise kann die eine zu viel sein. Merkel muss es bis zum Frühjahr gelingen, den EU-Plan umzusetzen, der besagt: Die EU nimmt pro Jahr auf fünf Jahre 200.000 (Kriegs-) Flüchtlinge freiwillig aus der Türkei, dafür nimmt die Türkei den großen Rest freiwillig zurück.

Kann sein, dass das nicht funktioniert. Aber wenn Merkel stürzt, ist Europa zunächst einmal ohne die eine große Führungspersönlichkeit. (Hans Rauscher, 5.2.2016)