Schon am Nachmittag liegt eine der Mitreisenden mit glasigen Augen auf ihrem Bett. Höhenkrankheit. Es ist eisig kalt in dem Mehrbettzimmer auf 4.300 Metern Höhe. Sie hat keinen Schlafsack mitgenommen, zieht sich eine Decke bis unters Kinn und leidet still bis zum nächsten Morgen. Fahrer Edgar Flores – verspiegelte Sonnenbrille, eingelassener Goldstern im Schneidezahn – hat eben erst seinen Toyota Landcruiser vor dem langgezogenen Lehmgebäude abgestellt, die Rucksäcke vom Dach geholt und Wasser für Kokatee aufgesetzt.

"Die meisten Gruppen übernachten noch höher, auf 4.800 Metern", sagt er. "Aber ich schaue ja auf meine Leute." Daraufhin verschwindet er in der verrauchten Küche der Herberge, in der Frauen mit weit abstehenden Reifröcken und hohen Hüten das Abendessen zubereiten. Ein alter Mann mit Hut spuckt einen Strahl grünen Kokasaft auf den Boden. Andere Reisegruppen treffen ein, Engländer, Brasilianer, Deutsche, Israelis, fast alle unter dreißig.

Foto: Mirco Lomoth

Draußen, im sattgelben Licht der sinkenden Sonne, liegt die Laguna Colorada wie eine riesige Blutlache in der Ebene des Salar de Uyuni. Diese Salzpfanne im Südwesten Boliviens ist mit rund 10.000 Quadratkilometern die größte der Erde. Keine eineinhalb Kilometer sind es von der Herberge bis zum Aussichtspunkt über der Laguna, doch das Herz pocht mit jedem Schritt in den Schläfen, die Atemzüge ersticken auf halbem Wege in die Lunge.

Suchbild für die Ewigkeit

Ein hoher Felsen gibt den Blick frei auf tausende Flamingos, weiß-rosafarbene Federkugeln, die auf dünnen Stelzbeinen im dunkelblauen Wasser stehen. Hinter der Kolonie färbt sich der See plötzlich tiefrot, umspült einige blendend weiße Borax-Inseln und spiegelt am anderen Ufer das Braun der umliegenden Berge wider. Ein Suchbild für die Ewigkeit. Doch die endet abrupt, als die Sonne beginnt, hinter den Bergen zu verschwinden und eiskalte Winde über die Ebene peitschen.

Foto: Mirco Lomoth

Edgar serviert Gemüsesuppe und Spaghetti mit Tomatensugo. Die Mitreisenden schauen aus verquollenen Augen, essen schweigend und verschwinden in ihren Betten, sobald es die Höflichkeit zulässt. Edgar hat angekündigt, dass er am nächsten Morgen früh aufbrechen will, noch vor Sonnenaufgang. Er ist gerne überall als Erster, lange bevor die anderen Fahrer eintreffen. Mit den Jahren hat er eine Art Sport daraus gemacht.

Geländewagenfahrten durch die Salzwüste von Uyuni zählen zu den beliebtesten Trips für Rucksackreisende in Südamerika. Um die 150 Gruppen starten jeden Tag vom chilenischen Wüstenresort San Pedro de Atacama oder der bolivianischen Kleinstadt Uyuni. Eine unüberschaubare Anzahl chilenischer und bolivianischer Reiseagenturen bietet die exakt gleichen Touren sehr günstig an. Dafür muss man sich zu sechst plus Fahrer in einen Toyota Lancruiser quetschen, mit den Knien unterm Kinn.

Foto: Mirco Lomoth

Man verbringt schlaflose Nächte, in denen Atemnot kalten Schweiß auf die Haut treibt und der Kopf dröhnt, als hätte man eine Flasche bolivianischen Rotwein geleert. Man lässt sich die Haut von Sonne und Wind verbrennen, und doch ist man am Ende glücklich, weil die Natur jeden Tag ein noch unfassbareres Spektakel aufführt als am Vortag.

Am Vortag sind wir von der chilenischen Grenze unterhalb des schneebedeckten Kegels des Vulkans Licancabur aufgebrochen in Richtung Uyuni-Salzwüste, lagen zur Mittagszeit bereits in heißen Thermalquellen und schauten dem Wasser hinterher, dass aus dem Becken durch eine weite Ebene in eine türkise Lagune floss. In fast 5000 Metern Höhe standen wir nah an dampfenden Geysiren und blickten in Löcher, auf deren Grund grauer Schlamm kochte.

Koka und Wunderbaum

Jetzt, am zweiten Tag der Reise, hält Edgar vor Felsen, die von der Erosion zu scharfkantigen Kreaturen geschliffen einsam auf der Salzkruste stehen. "15 Minuten für Fotos", sagt er. Wer will, kann schnell ein paar Bäume, Schiffe, Gesichter im Stein erkennen. Dann läuft der Motor schon wieder. Edgar will weiter, vor den anderen. Er schaufelt sich eine Handvoll Kokablätter in die Backen und tritt aufs Gas. Die Piste ist ein anarchistisches Muster einander überschneidender Reifenspuren. Am Rückspiegel baumeln ausgeblichene Wunderbäume wie wild zu Sweet Home Alabama.

Foto: Mirco Lomoth

Am Mittag dann die Laguna Hedionda. Hier gründeln die Flamingos inmitten eines perfekten Spiegelbilds schneebedeckter Berge. Unbeeindruckt von den vielen Menschen kommen die Tiere bis auf wenige Meter ans Ufer heran und ziehen ihre schwarzen Schnäbel durchs schlammige Wasser – eine geduldige Suche nach essbarem Plankton und Algen. Edgar hat das Mittagessen etwas oberhalb der Lagune auf der Heckklappe des Landcruisers angerichtet: Sandwiches mit Dosentunfisch, Dosenmais, Avocadostückerln und Mayonnaise.

Hier fehlt jeder Bezugspunkt

Seit 23 Jahren brettert er mit Besuchern über die Pisten zwischen der chilenischen Grenze und seiner Heimatstadt Uyuni. Er ist Fahrer, Mechaniker – das hat er gelernt – sowie Koch in Personalunion. Und ein passionierter Fotograf, der im Handschuhfach stets einen Plastikdinosaurier mitführt, mit dem er in der Salzwüste auf dem Bauch liegend die Art von Fotos macht, die den Maßstab verzerren, weil hier jeder Bezugspunkt fehlt: Tyrannosaurus fällt über Touristen her. Tourist schlägt zurück. Oder: Touristen sitzen in Turnschuh, der von Tyrannosaurus gezogen wird. Oder: Riesentourist präsentiert den Rest der Reisegruppe auf dem Handteller. Edgar lässt nicht locker, bis jeder mindestens einmal vor der Kamera stand.

Foto: imago/BE&W

Als er 1993 als Fahrer anfing, waren pro Woche gerade einmal zwei Geländewagen in der Salzwüste unterwegs, die Abenteurer mussten auf Lamafellen schlafen und abends für sich selbst kochen. Auch wer vor zehn Jahren herkam, fand in den meisten Unterkünften noch kein fließendes Wasser und keinen Strom, Gaslampen standen neben den Betten. Mittlerweile hat der Tourismus ein wenig Geld in die Gemeinden der Quinoa-Bauern und Lamazüchter gespült, die an der Hauptroute liegen. Sie haben in Solarzellen investiert und einige, noch immer sehr einfache, aber teilweise gut geführte Herbergen eröffnet, in denen man für ein paar Euro warm duschen kann. Manche sind komplett aus Salzblöcken gebaut.

Wüste mit eigenen Regeln

Nur selten erfährt man bei der Buchung einer Tour, wo genau man übernachten wird. Die Zimmervergabe funktioniert nach einer spontanen Logik, die nur die Fahrer kennen. Überhaupt funktioniert das ganze Geschäft mit der Salzwüste nach eigenen Regeln. Viele Agenturen tauschen untereinander Touristen aus oder engagieren selbstständige Fahrer, sodass man vorher nie sicher sein kann, welche Qualität man geboten bekommt. Sogar betrunkene Fahrer sollen immer wieder unterwegs sein. Wer mehr Komfort und Sicherheit sucht, muss tief in die Tasche greifen.

Einige Agenturen bieten mittlerweile Touren an, bei denen man in Hotels mit gehobenem Standard übernachtet. In der Nähe der Salzarbeiterstadt Colchani am Rande der Wüste sind in den letzten Jahren sogar einige Häuser mit Luxusanspruch entstanden. Man schläft unter Kuppeln aus Salzblöcken und kann in Salz gegartes Hendl bestellen. Hier trifft man vor allem japanische Reisegruppen oder chinesische Paare auf Hochzeitsreise, die mit Sonnenschirm, Abendgarderobe und Privatfotograf unterwegs sind.

Foto: imago/imagebroker

Unter funkelndem Sternenhimmel fahren wir am letzten Tag des Trips quer durch die Salzwüste zur Incahuasi-Insel. Edgar schaltet zum Spaß beim Fahren ein paar Mal die Scheinwerfer aus, sodass um uns herum nur noch eine alles verschluckende Dunkelheit ist. Wir erreichen die Insel im aufziehenden Blau der Dämmerung. Hunderte Säulenkakteen zeichnen sich wie ein Bataillon stacheliger Krieger vor dem Himmel ab, manche sind zehn Meter hoch und mehr als 1.000 Jahre alt. Sie wachsen zwischen versteinerten Korallen, die einst in einem warmen salzigen See gelebt haben, der vor rund 10.000 Jahren verdunstet ist.

Die ganze Wucht des Ortes

Die ersten Sonnenstrahlen bringen die Stacheln der Kakteen zum Glühen. Und plötzlich trifft einen die ganze Wucht dieses Ortes: Man steht auf einer mit bewachsenen Koralleninsel inmitten eines Ozeans aus Salz, etwas größer als Kärnten. Bis zum Horizont nicht als Weiß. Schon kommen die nächsten Besucher, ihre Geländewagen machen an der Insel fest wie Boote. Sie beeilen sich, um auf den Aussichtspunkt zu kommen, der bald überfüllt ist.

Es ist egal, wie jetzt überhaupt alles vergessen ist, die schlaflosen Nächte, die Kälte, die Höhenkrankheit. Was bleibt, ist die Weite. (Mirco Lomoth, Rondo, 12.2.2016)