Demonstration gegen die SVP-Initiative in Zürich. In einer Umfrage von Ende Jänner sind 51 Prozent der Schweizer für die Vorlage, noch im November 2015 fiel die Zustimmung höher aus (66 Prozent).

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DER STANDARD: Am 28. Februar sollen die Schweizer über die sogenannte Durchsetzungsinitiative der SVP abstimmen. Diese verlangt, dass eine Reihe von konkreten Bestimmungen zur Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern in die Verfassung aufgenommen wird. Die Schweiz hat auch heute schon auf Basis der Ausschaffungsinitiative von 2010 eines der schärfsten Gesetze dazu in Europa. Warum noch eine Initiative?

Keller: 2010 hat die Schweiz der sogenannten Ausschaffungsinitiative zugestimmt. Grundsätzlich wollte die Mehrheit der Bevölkerung, dass bei schweren Delikten Ausländer ohne Wenn und Aber des Landes verwiesen werden. Die in der Umsetzung nachträglich eingebaute "Härtefallklausel" sieht aber vor, dass man in jedem Fall noch einmal nachverhandeln kann. Die Bevölkerung hat übrigens den Gegenvorschlag des Parlaments, der eine ähnliche Ausnahmeregelung wie die Härtefallklausel wollte, deutlich abgelehnt. Deshalb die neue Initiative.

DER STANDARD: Die Juristen sehen das aber so, dass die Härtefallklausel nur bei weniger schweren Fällen zum Tragen kommt und dass – so steht es im aktuell geltenden Gesetzestext – bei Kapitalverbrechen "obligatorische Ausweisung" ohnehin zu erfolgen hat. Das reicht nicht?

Keller: Die Praxis hat gezeigt, dass sehr viele schwerkriminelle ausländische Straftäter im Land bleiben. Die Klausel ermöglicht es den Gerichten, in der gleichen Art und Weise fortzufahren. Die Mehrheit der Schweizer ist gegen diese lasche Auslegung.

DER STANDARD: Die Verhältnismäßigkeit, die durch diese Härtefallklausel geprüft werden kann, die Grundrechte, sind aber Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass Ihre Initiative den Rechtsstaat gefährdet?

Keller: Jeder – ob Schweizer oder Nichtschweizer – bekommt genau den gleichen Prozess. Damit ist die Rechtsstaatlichkeit gewahrt. Bei schweren Delikten wie Mord, Menschenhandel, Vergewaltigung, Sozialbetrug et cetera soll aber nach Verbüßen der Strafe automatisch eine Ausschaffung erfolgen. Und wenn schon von Rechtsstaatlichkeit die Rede ist, dann soll man bitte auch diesen Volksentscheid akzeptieren, der da lautet: Die Verhältnismäßigkeit ist bei geringeren Delikten gewährleistet, aber bei schweren Straftaten soll eine Ausschaffung erfolgen.

DER STANDARD: Das ist ja – wie gesagt – ohnehin jetzt schon so in dem sehr scharfen Gesetz so geregelt.

Keller: Nein. Die Härtefallklausel erlaubt es, jeden Vergewaltiger und Mörder vor einer Ausschaffung zu bewahren.

DER STANDARD: Wenn Sie sagen, die Richter gehen zu lasch vor, unterstellen Sie damit, dass sie nicht dem Gesetz entsprechend handeln.

Keller: Fakt ist, dass die Rechtsprechung und der Strafvollzug jahrelang zu täterfreundlich waren, Resozialisierung stand im Zentrum. Wir wollen die Opfer und das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung ins Zentrum stellen.

DER STANDARD: Fakt ist auch, dass sie auch Menschen abschieben wollen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, aber zur zweiten Generation gehören. Und das auch wegen Delikten wie eben einfacher Körperverletzung, Brandstiftung oder wegen Sozialmissbrauchs.

Keller: So geringe Delikte sind das auch wieder nicht. Und es müssen zwei Verurteilungen aus diesem Katalog vorliegen, damit es zu einer Ausweisung kommt.

DER STANDARD: Juristen gehen aber davon aus, dass die Schweiz mit einer solchen Praxis in vielen Fällen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen könnte.

Keller: Man kann die EMRK unter Vorbehalten ratifizieren, wie das beispielsweise Frankreich und andere Staaten getan haben. Die Schweiz kann von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.

DER STANDARD: Wie lösen Sie die Tatsache, dass ein Abschiebeverbot gilt, wenn dem Betroffenen im Heimatland Folter oder die Todesstrafe drohen oder aber auch, wenn in der Heimat sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner "Rasse, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung" bedroht ist?

Keller: Das zwingende Völkerrecht und das von Ihnen geschilderte Non-Refoulement-Prinzip wird von niemandem infrage gestellt.

DER STANDARD: Die Rektoren und Rektorinnen der Schweizer Universitäten warnten diese Woche in einem Manifest vor negativen Auswirkungen auf den Bildungsstandort und internationale Bildungsverträge. Sie teilen diese Sorge nicht?

Keller: Das ist absurd. Genauso absurd ist es, wenn die Wirtschaftsverbände die bilateralen Verträge gefährdet sehen. Das ist nichts anderes als der Aufstand abgehobener Eliten gegen die Bevölkerung und reiht sich ein in die Versuche, die demokratischen Rechte der Schweizer zu beschneiden.

DER STANDARD: Es gab bereits konkrete Auswirkungen zum Beispiel nach der Masseneinwanderungsinitiative. Da reagierte das EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 mit einer Herabstufung der Schweiz.

Keller: Das war eine politische Bestrafungsaktion. Die Schweiz hält sich bis heute an alle Verträge mit der EU, was man umgekehrt von vielen Mitgliedstaaten nicht behaupten kann, ich nenne nur die Schengen/Dublin-Abkommen. Was Horizon 2020 angeht: Hier sollte die Forschungszusammenarbeit und nicht die politische Disziplinierung im Zentrum stehen. Aber wenn es nicht anders geht, kann die Schweiz auch mit den USA oder asiatischen Ländern Forschungsprojekte verwirklichen. Die EU ist nicht die Welt.

DER STANDARD: 25 Prozent der in der Schweiz wohnhaften Personen haben keinen Schweizer Pass. Der Großteil davon kommt aus dem EU-Raum. Wie denken Sie, wirkt sich diese Diskussion auf die Atmosphäre des Zusammenlebens aus?

Keller: Persönlich erlebe ich oft, dass Ausländer, die sich integriert haben, noch weniger verstehen, wieso die Schweiz so pfleglich mit Leuten umgeht, die ihr Gastrecht missbrauchen. Die Kriminalitätsrate der hier ansässigen Menschen aus EU-Staaten ist übrigens etwa gleich tief wie jene der Schweizer. Personen aus Balkanstaaten oder dem Maghreb weisen eine bis zu sechs Mal höhere Quote aus. (Manuela Honsig-Erlenburg, 12.2.2016)