Gibt es eine "korrekte" Nutzung von Erinnerungsorten? Wien-Touristen pausieren beim Shoah-Denkmal auf dem Judenplatz.

Foto: Eva Schwab

Wien – Wie wird in Wien seit 1945 an die politische Gewalt des Nationalsozialismus und des Austrofaschismus erinnert? Welche Denkmäler und Erinnerungszeichen wurden wann in der Stadt errichtet – wo genau und von wem? Welche Gedenkorte sind wieder verschwunden? Welcher Opfergruppen wird gedacht und inwiefern beeinflussen die Erinnerungszeichen die Wahrnehmung und Nutzung des öffentlichen Raums? Das sind zentrale Fragen, denen sich ein Forschungsprojekt an der Universität Wien und der BOKU Wien derzeit widmet.

Hinter dem Titel "Politics of Remembrance and the Transition of Public Spaces" versammeln sich acht Forschende unterschiedlicher Fachrichtungen. In einer Datenbank erfasst haben sie bislang 2100 Orte und Zeichen in der ganzen Stadt, inklusive Georeferenzierung. Zu 250 seit dem Jahr 1995 errichteten Erinnerungszeichen rekonstruieren die Wissenschafter außerdem den Errichtungsprozess. Und sie analysieren für sechs Erinnerungsorte mithilfe von Netzwerkanalysen die politischen Entscheidungsprozesse und deren Alltags- und Gedenknutzung im Detail. Das Ergebnis kann sich bereits sehen lassen: Entstanden ist die bislang umfangreichste Dokumentation von Erinnerungszeichen in Wien.

Keine Artefakte

Der interdisziplinäre Ansatz sei für das Projekt entscheidend, sagt der Historiker Peter Pirker, der gemeinsam mit dem Politikwissenschafter Walter Manoschek das Projekt leitet. "Wir analysieren die Erinnerungszeichen ja nicht als Artefakte an sich, sondern verstehen sie als Materialisierungen von sozialen Prozessen". Das ist der Grund, warum auch Landschaftsarchitekten und eine Sozialanthropologin am Projekt beteiligt sind. Denn ob es sich um das weithin sichtbare Shoah-Mahnmal handelt, um einen "Stolperstein", eine temporäre Ausstellung in der Schulbibliothek oder eine Gedenktafel für ein kommunistisches NS-Opfer an der Hauswand: Hinter jedem Erinnerungszeichen stehen Diskussionen über seinen Ort, Inhalt und die ästhetische Gestaltung. Aushandlungsprozesse, die sich zu einem bleibenden Ergebnis verdichten, die den späteren Betrachtern des Zeichens aber nicht mehr zugänglich sind.

Landkarten zeigen Wandel im Gedenken

Parallel zur qualitativen Analyse der Gedenkorte erstellt das Projektteam Landkarten, die etwa sichtbar machen, wo in der Stadt im Laufe der Jahre welcher Opfergruppen gedacht wurde. Erfasst werden dabei dauerhafte und temporäre Erinnerungszeichen wie etwa künstlerische Interventionen oder vorübergehende Ausstellungen im öffentlichen Raum. Der Blick auf eine dieser Karten zeigt etwa, dass in der frühen Phase des Erinnerns ab 1945 vor allem in den Arbeiterbezirken am Stadtrand Gedenkorte errichtet wurden – dort, wo die großen Industriebetriebe standen. "Dort haben Betriebsgruppen Denkmäler für ermordete Genossen und Widerstandskämpfer errichtet", sagt Pirker.

Die zwischen 1945 und 1985 in Wien errichteten Erinnerungszeichen (türkis).
Foto: Philipp Rode

Eine Karte aus einem späteren Jahr zeigt das Verschwinden von Gedenktafeln, die kommunistischen Opfern gewidmet waren. So wurden seit 1945 in Wien insgesamt 103 Erinnerungszeichen entfernt, erzählt Pirker – etwa ein Drittel befand sich in Betrieben oder war von der KPÖ errichtet werden. "Die Partei musste in den 90er-Jahren in den Arbeiterbezirken viele Lokale und Häuser aufgeben." Damit sind auch die Erinnerungszeichen an den Fassaden verschwunden.

Die zwischen 1986 und 2004 in Wien errichteten Erinnerungszeichen (pink)
Foto: Philipp Rode

Fruchtbare Verknüpfung

Seine Dichte bezieht das Projekt aus der Verknüpfung des räumlich visualisierbaren Datenmaterials mit der inhaltlichen Analyse. "Wenn man verschiedene Kategorien wie Opfergruppen oder Stifter räumlich zueinander in Beziehung setzt, wirft das Fragen auf, die sich nicht stellen, wenn man nur das statistische Material betrachtet", sagt Philipp Rode, der mit Kollegin Eva Schwab das Projekt als Landschaftsarchitekt betreut und die Karten erstellt.

Die zwischen 2005 und 2015 in Wien errichteten Erinnerungszeichen (rosa).

In den sechs Fallstudien – darunter das Deserteursdenkmal am Ballhausplatz und das Shoah-Mahnmal am Judenplatz – wird die politikwissenschaftliche Analyse der Erinnerungszeichen durch Sozialraumanalyse ergänzt. "Diese Orte stehen beispielhaft für eine Entwicklung, hier verdichten sich Prozesse besonders anschaulich", sagt Pirker. Und hier kommt die Landschaftsarchitektin Eva Schwab ins Spiel. "Es hat sich gezeigt, dass die Verortung eines Erinnerungszeichens stark beeinflusst, wie es auf- und angenommen, überhaupt wahrgenommen und folglich bespielt und verstanden wird", sagt sie. Schwab analysiert, wie die unmittelbare Umgebung auf die Nutzung eines Gedenkortes wirkt und auf welche Weise der Sozialraum rund um das Denkmal einbezogen wird. Sie untersucht etwa, wie das Grätzel im 15. Bezirk auf den dortigen Turnertempel als Gedenkort reagiert. "Was im Stadtzentrum in einem touristischen Kontext verstanden wird, macht in einem Arbeiterbezirk für die Leute offenbar weniger Sinn."

Alle seit 1945 von privaten Stiftern in Wien errichteten Gedenkzeichen (pink).

Das Projekt, das vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds finanziert und vom Nationalfonds der Republik für die Opfer des Nationalsozialismus gefördert wird, läuft bis Ende 2016. Sein Output kann sich bereits sehen lassen. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie universitär geschaffenes Wissen an die Gesellschaft zurückgespielt werden kann. "Unser Ziel ist es, eine digitale Karte der Erinnerung für die Stadt Wien zu entwickeln und öffentlich zugänglich zu machen", sagt Pirker. Bleibt abzuwarten, ob die Stadt diesen Schatz hebt. (Lisa Mayr, 15.2.2016)