Zerstörte Häuser in einem Viertel von Damaskus.

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Flüchtende am Grenzübergang zwischen Syrien und der Türkei.

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Aleppo/München – Im syrischen Bürgerkrieg sind einer Studie zufolge deutlich mehr Menschen ums Leben gekommen als bisher angenommen. Insgesamt seien dem Konflikt 470.000 Syrer zum Opfer gefallen, berichtete die britische Zeitung "Guardian" am Donnerstag unter Berufung auf das Syrische Zentrum für Politikforschung, einem erst vor wenigen Jahren gegründeten Think-Tank.

Demnach sind 400.000 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen getötet worden. Weitere 70.000 Menschen seien gestorben, weil es etwa an sauberem Wasser, medizinischer Versorgung oder einer angemessenen Unterkunft gefehlt habe. Rund 1,9 Millionen Menschen seien verletzt worden. Damit sind rund elf Prozent der Bevölkerung in dem Krieg getötet oder verwundet worden.

Die Vereinten Nationen hatten in einer früheren Schätzung von 250.000 Toten gesprochen. Der Studie zufolge sank die durchschnittliche Lebenserwartung von 70 im Jahr 2010 auf 55,4 Jahre im Jahr 2015. Der wirtschaftliche Schaden werde auf 255 Milliarden Dollar geschätzt.

Kampf um Aleppo: Vertreibung von 50.000 Menschen

Bei den aktuellen Kämpfen um die syrische Stadt Aleppo sind nach Schätzungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zuletzt 50.000 Menschen vertrieben worden. Außerdem seien Versorgungsrouten unterbrochen, teilte das IKRK am Mittwochabend in Genf mit. Das Rote Kreuz versuche, medizinische Hilfe, Wasser und Essen zu den Menschen zu bringen. UN-Organisationen hatten am Dienstag davor gewarnt, dass bis zu 300.000 Menschen in Aleppo von Hilfslieferungen abgeschnitten werden könnten.

"Die Kämpfe setzen den Menschen stark zu. Die Temperaturen sind extrem niedrig. Die Vertriebenen versuchen, ohne Schutz, Wasser und Nahrung unter sehr gefährlichen Bedingungen zu überleben", sagte die Leiterin der Syrien-Delegation des IKRK, Marianne Gasser. In den vergangenen Tagen sei es gelungen, Essen für rund 10.000 Familien in der umkämpften Region zu verteilen. In der Großstadt Aleppo selbst seien die Menschen auf die 100 vom IKRK eingerichteten Wasserstellen angewiesen.

Russland will Waffenruhe vorschlagen

Russland schlägt unmittelbar vor den Gesprächen über die Beilegung des Syrien-Konflikts eine Waffenruhe für das Bürgerkriegsland vor. Das Thema werde bei den Gesprächen in München eine Rolle spielen, sagte der Vize-Außenminister Gennadi Gatilow am Donnerstag der Nachrichtenagentur TASS zufolge. "Wir sind bereit, über die Modalitäten einer Waffenruhe zu sprechen." Zugleich stellte Gatilow der Agentur Interfax zufolge eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen vor dem 25. Februar in Aussicht.

Insidern zufolge hat Russland eine Waffenruhe zum 1. März vorgeschlagen. Allerdings hätten die USA Bedenken wegen einiger Aspekte des Vorstoßes. Daher gebe es noch keine Einigung darüber, sagte ein westlicher Regierungsvertreter am Mittwochabend. US-Außenminister John Kerry hofft bei den am späten Nachmittag beginnenden Beratungen der Syrien-Kontaktgruppe in München auf eine Einigung zwischen Russland, den USA, Saudi-Arabien, dem Iran und anderen Staaten, um die Friedensgespräche wieder in Gang zu bringen. Diese waren wegen der Offensive der syrischen Armee, die von Russland unterstützt wird, bis Ende des Monats von den Vereinten Nationen ausgesetzt worden.

Türkei droht mit Eingreifen

Die Türkei hat unterdessen mit einem Eingreifen in Syrien gedroht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Donnerstag in Istanbul, irgendwann werde das Land "die Geduld verlieren". Dann werde die Türkei gezwungen sein, aktiv zu werden.

Erdogan drohte damit, syrische Flüchtlinge massenweise in andere Länder zu schicken. Die Flüchtlinge könnten in Länder geschickt werden, aus denen derzeit "gute Ratschläge" zur Öffnung der Grenze wegen der Lage in der syrischen Stadt Aleppo kämen, sagte er laut der Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag in Ankara.

Erdogan sagte in seiner Rede vor einem Verband von Jungunternehmern, einige Länder hätten lediglich ein paar hundert Flüchtlinge aufgenommen. Die Türkei dagegen gewährt 2,5 Millionen Syrern Zuflucht. "Tut mir leid, aber wir haben kein Schild mit der Aufschrift 'Dummkopf' auf unserer Stirn."

In seiner Rede bestätigte er, dass er bereits bei einem Treffen mit der EU-Spitze im vergangenen Jahr damit gedroht hatte, Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Er habe damals gesagt, dass die Türkei die Flüchtlinge an der Grenze nach Europa aufhalte. Doch eines Tages könne es sein, dass die Türkei "das Tor aufmacht und ihnen gute Reise wünscht", sagte Erdogan.

Sicherheitskonferenz in München

Die internationale Gemeinschaft lotet am Donnerstag in München die Chancen für eine Wiederaufnahme der Syrien-Friedensgespräche aus. An der Konferenz nehmen Außenminister und andere hochrangige Vertreter aus 17 Staaten teil, darunter die USA, Russland, Saudi-Arabien, Iran und die Türkei. Diese fünf Länder haben eine Schlüsselrolle bei den Bemühungen um ein Ende des seit fünf Jahren andauernden Bürgerkriegs.

Die Friedensgespräche in Genf waren vor einer Woche nach nur fünf Tagen abgebrochen worden und sollen möglichst am 25. Februar fortgesetzt werden. In München sollen nun die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Es wird vor allem um eine bessere humanitäre Versorgung notleidender Menschen und die Vorbereitung eines Waffenstillstands gehen.

Kritik aus Türkei

Auch der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hatte am Mittwoch erneut die Forderung nach einer Grenzöffnung für zehntausende Flüchtlinge aus Syrien als "Heuchelei" zurückgewiesen. Manche "Kreise", darunter der UN-Sicherheitsrat, würden "für die Lösung der Syrienkrise keinen einzigen Finger krumm machen", zitierte ihn die Nachrichtenagentur Anadolu. Gleichzeitig fordere man von der Türkei eine Öffnung der Grenze. Davutoğlu forderte zudem eine eindeutige Verurteilung der russischen Luftschläge in Syrien. (APA, Reuters, red, 11.2.2016)