Schriftstellerin Klemm: "Ich hatte das Gefühl, zwei Drittel meiner Existenzberechtigung sind weggebrochen."

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Gertraud Klemm, "Muttergehäuse", € 19,90 / 157 S. Kremayer&Sche-riau, Wien 2016

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STANDARD: Sie sind studierte Biologin, haben jahrelang als hygienische Gutachterin gearbeitet. Wie haben Sie den Sprung in die Literatur geschafft?

Gertraud Klemm: Ich hatte zur richtigen Zeit die richtige Krise. Ich war Beamtin und habe für die Stadt Wien Trinkwasser kontrolliert. Das mit dem Kinderwunsch hat nicht funktioniert. Damit erübrigen sich auch sehr schnell alle Vorteile dieses Beamtentums. Weil es mir psychisch schlecht ging, habe ich mich ein Jahr lang in eine unbezahlte Karenz zurückgezogen, um zu schreiben. In diese Zeit sind auch die ersten Literaturpreise gefallen. Das hat mich zum Weitermachen motiviert.

STANDARD: Das ging dann schnell?

Klemm: Nun ja. Das war 2005 und meine erste nennenswerte Publikation hatte ich 2014, also neun Jahre später. In meinen Beruf zurück bin ich nicht mehr. Ich habe zuerst als Schreibpädagogin mein Geld verdient und nebenbei geschrieben. Und ich habe ein Stipendium bekommen. Finanziell war das natürlich kein Vergleich, dafür hatte ich das Gefühl, endlich am richtigen Platz zu sein.

STANDARD: Sie haben mit ihrem Mann zwei Kinder adoptiert. Wie schaut es bei Ihnen zuhause mit Arbeitsteilung aus?

Klemm: Das Interessante ist, dass mich die Mutterrolle ganz schnell in eine Hausfrauenrolle gedrängt hat, obwohl vorher alles sehr partnerschaftlich funktioniert hat. Klar, ich habe kein Geld verdient und war zuhause beim Kind. Ich habe das einige Monate duldsam hingenommen, dann ist ein großer Konflikt aufgebrochen. Mittlerweile funktioniert einigermaßen gut. Vor allem deswegen, weil ich oft tagelang nicht da bin. So kommt auch mein Mann in den vollen Genuss der Doppelbelastung, und das bringt beiderseitiges Verständnis.

STANDARD: Auf Seite 43 steht vielleicht der zentralste Satz für dieses ihr neues Buch "Muttergehäuse": "Das Buch, das mich tröstet, muss ich mir wohl selber schreiben." War es Trost, es zu schreiben.

Klemm: Ich habe geschrieben in Ermangelung eines Gegenübers. Ich hatte niemanden, der in der gleichen Situation war. Das Papier war mein Gegenüber. Über das Thema ungewollte Kinderlosigkeit herrscht große Heimlichtuerei und großes Schweigen. Eine Art Stillhalteabkommen.

STANDARD: Also gab es einen Schreibprozess, unabhängig von der Publikation.

Klemm: Es war zunächst keine Veröffentlichung angedacht. Es war ein Journal, mein "Uterus-Diary". Nachdem alles abgekühlt ist, hatte ich ein großes Bedürfnis, das zu überarbeiten. Nachdem es schon in einer kleinen Auflage woanders erschienen ist, hat mich Kremayr und Scheriau angesprochen, ob ich es neu auflegen möchte. Es ist ein Ausflugsprojekt, kein Verlagswechsel.

STANDARD: Es steht Roman auf dem Buch, was das Buch sicher nicht ist.

Klemm: Der Markt sagt: Wenn Prosa draufsteht, verkauft es sich nicht. Am ehesten wäre es ein "Journal".

STANDARD: Warum ist das Kinder-Kriegen, wenn es nicht funktioniert, so ein Tabu?

Klemm: Das geht es erst einmal um Geschlechtsorgane. Darüber lässt sich nicht so leicht reden wie über einen Bandscheibenvorfall. Und zweitens geht es um die Urfunktion der Frau. Kinderlosigkeit wird von der Gesellschaft wie eine schwere, unsichtbare Behinderung wahrgenommen. Mir war vorher nicht klar, wie sehr dieses Mutterbild noch wirkt. Ich hatte das Gefühl, dass Zweidrittel meiner Existenzberechtigung weggebrochen sind. Das Wort "gute Hoffnung" hat ja metaphorische Bedeutung. So eine Einbuße im Leben kann man nicht vorwegnehmen.

STANDARD: Ihr Buch " Muttergehäuse" transportiert die weibliche Perspektive. Wo liegen Unterschiede zwischen ungewollt kinderlosen Frauen und Männern?

Klemm: Wenn der Grund beim Mann liegt, ist meine Erfahrung, dass die ohne Probleme über ihre schlechte Spermien-Qualität reden und das alles sehr gut von ihrer Sexualität abgrenzen können. Das Vater-Werden ist nicht so essentiell für das Mannsein wie das Mutter-Werden für das Frausein.

STANDARD: Wünschen Sie sich von der Gesellschaft einen anderen Umgang mit dem Thema?

Klemm: Das ist schwierig, weil die Mütter selbst da nicht mitarbeiten. Die Konsequenz wäre, dass sich Frauen nicht so sehr über Kinder definieren, dass sie sagen: "Ich bin Frau, auch Mutter" und sich nicht so breit machen in dem gesellschaftlichen Verständnis, dass sie erst mit Kindern komplett sind. Das ist der Knackpunkt, an dem Frauen sagen müssten: Es ist schön mit Kindern, aber ohne Kinder bin ich auch jemand. Das funktioniert nicht. In dem Moment bist du eine schlechte Mutter und wirst entwertet.

STANDARD: In ihrem Buch kommt das auch heraus, dass die mit Kindern die ohne Kinder immer ein bisschen bemitleiden.

Klemm: Als ich mich für Plan B entschieden habe, vielleicht ein Leben ohne Kinder, bin an den Punkt zurück und habe mich gefragt: Was wollte ich eigentlich wirklich? Das war bei mir das Schreiben. Das hat mir diese Situation geschenkt. Diese Kurskorrektur wäre mir sonst nicht in den Sinn gekommen. So viele träumen nicht fertig und denken nicht fertig. Auch Männer, weil sie in dieser Ernährer-Rolle stecken.

STANDARD: Sie sind eine sehr präzise Beobachterin, im neuen Buch auch von sich selbst. "Heimlich sammle ich Fehlgeburten. Ich sammle das Unglück der anderen." Das Buch ist ein langer innerer Monolog. Wie finden Sie zu dieser Schonungslosigkeit?

Klemm: Die entsteht beim Schreiben. Das alles passiert ja vielen Frauen und sehr häufig jenen, die versuchen mit IVF schwanger zu werden. Und es ist brutal: Es ist eine Art Trost, wenn es anderen auch passiert.

STANDARD: "Ich nehme mein Schicksal an die Hand", schreiben Sie an anderer Stelle, "und führe es an die frische Luft". Wie bleiben Frauen in so schmerzvollen Situationen handlungsfähig? Und wo liegen für Sie die Grenzen in der Fertilitätsmedizin?

Klemm: Für mich war die Adoption ein Weg da raus. Und vorher, wie schon gesagt, zurückzugehen an Punkte, wo sich Leidenschaften zeigen. Einen Segelkurs machen, wenn man die Welt umsegeln wollte. Auch die Zeit heilt viele Wunden. Diese ganze Reproduktionsindustrie sehe ich persönlich kritisch und habe mich bewusst dagegen entschieden. In diese Untersuchungsketten und diesen Untersuchungsapparat wollte ich mich nicht begeben. Wir haben uns früh mit dem Thema Adoption beschäftigt, weil es viele Kinder gibt, die keine Eltern haben. Der Wunsch nach leiblichen Kindern war nicht groß genug. Ich fürchte, da ist manchmal viel Egoismus und Eitelkeit dabei.

STANDARD: Das Kapitel 21 ist das kürzeste Kapitel im Buch: "Man hat zehn Tage Zeit, um alles vorzubereiten, das man sich nicht vorzubereiten getraut hat." War das so?

Klemm: Oh ja, man hat uns gesagt, dass wir ungefähr mit ein bis zwei Jahren Wartezeit rechnen sollen. Im Februar hatten wir die Papiere fertig. Ich dachte, frühestens im Sommer fange ich mit den Vorbereitungen an. Dann wurden wir zwei Monate später angerufen. Anfang Mai sind wir geflogen. Wir waren im Leben mit 200 km/h unterwegs und mussten eine Vollbremsung hinlegen, um uns auf die Geschwindigkeit eines Säuglings einzustellen.

STANDARD: Sie schreiben: "Adoptieren heißt bewundert werden". Ist das so?

Klemm: Es gibt sicher Kritiker, die Kinderhandel ins Treffen führen, sich fragen, wie es den Kindern bei uns geht. Aber es überwiegt die Bewunderung, dass man sich das traut. Was ich nicht nachvollziehen kann, weil Kinderkriegen immer ein großes Wagnis ist, verbunden mit vielen Problemen und Fehlerquellen. Dessen sind sich aber viele leibliche Eltern oft nicht bewusst.

STANDARD: Sie thematisieren auch die Sichtbarkeit der Adoption durch die farbigen Kinder, die Sie adoptiert haben.

Klemm: Ich kannte es nicht, so angestarrt zu werden, aber es ist für uns die Norm. Man merkt, wie es in den Köpfen rattert, der suchende Blick nach dem Vater. Da laufen diese ganzen Vorurteile ab. Es war sicher auch ein bisschen Paranoia dabei durch die Ungewohntheit der Situation. Aber es wird mir mittlerweile auch von Freunden bestätigt, die mit uns unterwegs sind. Die Kinder kennen das nicht anders. Auch das Angegriffen werden, das ist ganz alltäglich und nicht immer abwendbar. Und natürlich wird man auch ganz schamlos gefragt: Wer von euch ist unfruchtbar? Was hat das gekostet? Das gibt es eine große Neugierde. Zuerst die Neugierde, dann die Schublade.

STANDARD: Zwischen den einzelnen Kapiteln ihres Journals stehen sehr literarische Traumsequenzen. Wie sind die entstanden?

Klemm: Viele kamen aus dem Traumjournal, das ich führe. Ich arbeite generell viel mit Träumen, nehme sie sehr ernst, gehe denen nach. Im Nachhinein waren viele Träume wirklich prophetisch. Ich habe erst aus der Distanz erkannt, dass sie sehr viel bebildern, was in den Prosa-Passagen ungesagt, weil unaussprechlich, blieb.

STANDARD: Sie schreiben auf, was viele Eltern nie aussprechen. "Gemeinsam verblöden wir an der frischen Luft und am Abend erinnert sich keiner mehr an irgendwas" oder "Ein Kind haben, heißt Nähe leben und auch ertragen." Es gibt jetzt eine ganz neue Bewegung unter dem Hashtag #regrettingmotherhood. Finden Sie das gut?

Klemm: Ja, denn ist ja nicht "regrettingchild", sondern "regrettingmotherhood". Es geht um das Bereuen der Rolle. Ich finde es wichtig, dass da laut nachgedacht werden darf. Ein Aufschrei dagegen ergibt sich daraus, weil die heilige Mutterstatue nicht umgestoßen werden darf. Es geht aber gesellschaftlich nur weiter, wenn man sich die Hinterseite und die Unterseite dieser Mutterschaft genau anschaut. Seit Rousseau ist sowieso alles konstruiert, dieser Instinkt, die Idylle, der Umstand, dass die Frau altruistisch geboren wird. Wir werden instrumentalisiert, so paranoid das auch klingt. Das tut natürlich weh. Besonders jenen, die ihr ganzes Leben auf Selbstaufgabe aufgebaut haben.

STANDARD: Kinderhaben ist zum Statussymbol geworden.

Klemm: Wir sind erst knapp die zweite Generation, die sich für oder gegen Kinder entscheiden kann. Ich glaube, deswegen ist der Wert von Kindern auch so gestiegen. Weil, laut Stand der Medizin, theoretisch alle Kinder Wunschkinder sein könnten. Und noch bevor wir mit diesem Umstand fertig geworden sind, kommt das ganze Engineering auf uns zu. Da hat sich so viel getan, dass diese ganze Moral und dieser Selbstbegriff von Frausein ohne Kind in der kurzen Zeit nicht mitkommen können. Dazu gibt es noch nicht lang genug Verhütungsmethoden und noch nicht lange genug Feminismus.

STANDARD: Stichwort: Feminismus. Dass das Private politisch ist, lösen Sie mit diesem Buch sehr stark ein. Wie war da ihr Entscheidungsprozess, sich so angreifbar zu machen?

Klemm: Sehr hart. Aber wenn ich die Geschichte unserer Familie nicht erzähle, erzählt sie sich aufgrund unseres sichtbaren Andersseins selbst. In den Köpfen der Leute läuft soundso eine Assoziationskette ab, die einen hohen Anteil an Unsinn haben kann. Dieses Buch ist eine Richtigstellung. Ich habe kurz ein Pseudonym erwogen. Aber sich für diese Geschichte zu schämen, würde bedeuten, sich für die Kinder zu schämen. Offenheit ist für "normale" Familien ein großes Wagnis, aber für uns ist es Alltag, die unterschiedlichen Hautfarben veröffentlichen schon so viel Familiengeschichte. Die intime Innenschau im Text beschränkt sich auf mich.

STANDARD: Ihr Roman "Aberland" wurde sehr positiv rezensiert. In der FAZ gab es aber auch eine harsche Kritik einer Kollegin. Wie lernt man damit umzugehen?

Klemm: Der Vorwurf des Antifeministischen traf mich schon. Es gab eben auch viele Frauen, die sich durch die Lektüre angegriffen fühlten. Beim Nachdenken bin ich draufgekommen, dass es sehr stark um das Verstehen des Tons geht, weil in "Aberland" sehr viel Ironie und Sarkasmus drinnen steckt. Die Lesart kann ich aber nicht mitentscheiden. Es tut weh, aber man bekommt ja auch das Zuckerbrot: die positiven Rezensionen, die Verkaufszahlen und die Folgeprojekte, die dadurch angeleiert wurden.

STANDARD: Nach dem Wettlesen in Klagenfurt haben Sie einmal gesagt: Man wird zum Substrat für den Zirkus. Welche Zugeständnisse machen Sie an den Literaturzirkus?

Klemm: (lacht) Ich bin da gerade in einer kritischen Phase. Ich habe mitunter das Gefühl, dass es um die Frage geht: Markt oder Literatur? Und manchmal spüre ich in mir diese Verführung, mehr in diese erzählende Richtung abzugleiten und nicht in die suchende. Ich versuche, das gerade auszubalancieren, mit Texten, die nicht so gut verkäuflich sind. Irgendwann glaubt man zu wissen, wie es geht und dann ist das wie ein Strickmuster, das man nur weiterstricken müsste. Dadurch würde man vom Suchenden wegkommen. Ich hoffe, dass ich mich gar nicht so verbiegen kann, dass ich nur noch marktkonform arbeite. Aber die Verführung ist da. Man will nicht mehr in die Versenkung verschwinden.

STANDARD: Gibt es da Vorbilder für Sie?

Klemm: In ihrer Konsequenz und Gnadenlosigkeit steht sicher Marlene Streeruwitz ganz oben. Die verbiegt sich nicht, verkauft sich nicht. Für diese Konsequenz muss man halt die Streeruwitz sein. Ich mag auch Margit Schreiner, die vielleicht nicht so sichtbar, aber trotzdem immer da ist. Ich sehe mir genau an, wie sich meine Kollegen und Kolleginnen präsentieren.

STANDARD: Steht man als feministische Autorin unter Druck, sich z.B. zu den Vorkommnissen in Köln zu äußern?

Klemm: Den gäbe es schon. Bei mir ist es aber oft so, dass meine Meinung in Bewegung ist, solange noch neue Informationen kommen. Es ist eine Frage der Energie, sich eine fundierte Meinung zu bilden, sie zu äußern, und dann dafür 2000 digitale Watschen zu kassieren. Die habe ich im Moment nicht.

STANDARD: Ich habe gelesen, dass es in Ihrem neuen Buch um eine 70-jährige Konzeptkünstlerin geht.

Klemm: Ja, das Altsein ist ja die nächste Abwertung, die auf uns wartet. Da werden wir uns auf die Beine stellen müssen und sagen: Ich altere so, wie ich will. Es gibt ja vielleicht einen Raum, in dem eine ältere Frau auch gefragt, bewundert, schön und begehrt sein darf. Der ist noch sehr klein, und den möchte ich aufmachen. Für mein nächstes Projekt schicke ich eine alte Frau und einen jungen Mann in einem Bus durch Österreich, aber weiß noch nicht, wohin das führen wird.

STANDARD: Aber immerhin: Der Bus fährt schon?

Klemm: (lacht) Nein, der Bus ist noch nicht einmal losgefahren. (Mia Eidlhuber, 14.2.2016)