Bild nicht mehr verfügbar.

Kim Jong-un gilt neuerdings auch für China als unberechenbarer politischer Faktor in der Region.

Foto: Reuters/KNCNA

Jahrzehntelang umschrieben China und Nordkorea ihr Nachbarschaftsverhältnis als "so nah wie Lippen und Zähne." Staatsgründer Kim Il-sung verdankte Chinas Mao Tse-tung das politische Überleben, nachdem er den Koreakrieg (1950–1953) mit einem Überfall auf den Süden provoziert hatte.

Doch heute steht es schlecht um das enge Verhältnis, vor allem seit die Kim-Dynastie begonnen hat, mit eigenen Atomwaffen zu zündeln. Unter dem unberechenbaren Enkel Kim Jong-un droht nun der offene Bruch. Ungeachtet aller Sanktionen und obwohl selbst die Schutzmacht China auf Distanz ging, verkündete Kim nach seinem vierten Atombombentest im Jänner öffentlich, er werde weitermachen und Nordkoreas Atomwaffen "qualitativ und quantitativ" noch verbessern.

Eine Woche, nachdem er mutmaßlich einen Erdbeobachtungssatelliten namens Kwanmyongsong 4 ins All schießen ließ, kündigte der 34-Jährige "weitere Satellitenstarts in Zukunft" an, schrieb gestern, Montag, die Nachrichtenagentur KCNA. Auch chinesische Medien sehen in den Satellitenstarts verkappte Tests potenzieller Trägerraketen, die eines Tages miniaturisierte Atomsprengköpfe tragen könnten.

Nerv getroffen

Kim hat diesmal allerdings den Nerv der USA, Südkoreas und Japans getroffen. Sie reagierten mit einer Serie neuer Wirtschaftssanktionen. Seoul etwa kündigte die Zusammenarbeit mit Nord korea in der Wirtschaftszone Kaesong auf. Südkoreas Vereinigungsminister Hong Yong-pyo verwies auf Berechnungen, wonach 70 Prozent aller Deviseneinnahmen aus Kaesong in die nordkoreanische Aufrüstung flossen.

Doch auch in China reißt der Geduldsfaden. Ausgerechnet die einflussreiche populistische Parteizeitung Global Times forderte gestern, Montag, ein Ende der strategischen Rücksichtnahme: "60 Prozent der chinesischen Bevölkerung oder vielleicht mehr", würden Nordkorea nur noch als "Belastung" für China und als "bösen Nachbarn" empfinden.

"Strategischer Puffer"

Die Global Times galt bisher als Sprachrohr für Hardliner und schob bis vor kurzem noch alle Schuld an Nordkoreas Provokationen den USA in die Schuhe. Trotz der verurteilenswerten Atomwaffentests wiege die traditionelle Freundschaft und der geopolitische Wert Nordkoreas als "strategischer Puffer" gegen die USA schwerer. Doch der Leitartikel warnt, dass immer mehr Menschen in der Nordkorea-Frage so wie der Westen denken. Pekings Politik sei "zu schwach". Sie setze nicht auf wirkliche Sanktionen. "Mit unseren Bluttranfusionen päppeln wir einen Gegner hoch."

Im Fall von Nordkorea gehe es auch um die Gefahrenlage in Nordostasien und für die globale Außenpolitik. China müsse diese Entwicklung "frühzeitig in seine Planungen einbeziehen". "Wir müssen neu nachdenken und die Lage neu bewerten." Es sei auch ein "neuer Trend", dass viele den Bruch der UN-Resolutionen hart bestraft sehen wollen. Pjöngjang müsse "echte Schmerzen" leiden.

Tiefes Unbehagen

Der ungewöhnliche Kommentar spiegelt ein tiefes Unbehagen in den politischen Eliten Chinas wider. Peking ist mit seiner Nordkoreapolitik des Status quo international ins Abseits gedriftet, während sich die USA und Südkorea enger verbinden.

Für China war es ein Schock, wie schnell sich Washington und Seoul aufgrund der Bedrohung einig wurden, das Raketenabwehrsystem THAAD (Terminal High Altitude Area Defence) auf einer US-Basis in Südkorea zu installieren. Peking hat seit Jahren versucht, diese Verteidigungsmaßnahme zu verhindern. Denn das Hightech-Abwehrsystem schützt nicht nur die USA vor Nordkoreas Langstreckenraketen: Allein durch sein Vorhandensein tangiert es das strategische Gleichgewicht der Raketenabschreckung durch China und Russland.

Und es ist ein weiterer Baustein, der die Präsenz der USA im Asien-Pazifik-Raum zementiert. (Johnny Erling aus Peking, Der Standard, 16.2.2016)