Salzburg/Wien – Bei der Auflösung einer privaten Bibliothek des Wiener Antiquars Erhard Löcker ist ein bisher nicht bekanntes Gedicht von Georg Trakl (1887-1914) entdeckt worden. Auf dem ersten Blatt einer "Hölderlin"-Ausgabe von 1905 ist das Gedicht "Hölderlin" von Trakl in gut lesbarer Handschrift geschrieben. Das berichtete am Montag die Salzburger Kulturvereinigung, die das Exemplar erworben hat.

Auf dem vorderen Spiegelblatt des Hölderlin-Bandes befindet sich das von Max Esterle entworfene Exlibris Georg Trakls. Dies sei ein Hinweis darauf, dass der Band aus Trakls Besitz stammt, erklärte der Leiter der Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte, Hans Weichselbaum. Auf der gegenüberliegenden Seite habe der in Salzburg geborene Dichter mit Bleistift das Gedicht "Hölderlin" geschrieben. "Da er keine Korrekturen angebracht hat, wie sie bei anderen seiner Manuskripte häufig zu finden sind, dürfte es sich um eine Reinschrift handeln." Dass es noch Handschriften von unpublizierten Gedichten Trakls gibt, hätte wohl keiner vermutet, meinte Weichselbaum.

Weichselbaum hat einen Kommentar zu dem Gedicht verfasst: Es besteht aus zwei vierzeiligen Strophen in gleichmäßigen vierhebigen Jamben mit umschließendem Reim, wie ihn Trakl zu dieser Zeit gerne verwendet hat. Die erste Strophe zeigt eine friedliche Landschaft, in der fast alle Bewegung zum Stillstand gekommen ist. Elemente dieser Strophe kommen auch in der ersten Strophe des bekannten vierstrophigen Gedichtes "Melancholie des Abends" vor, das Trakl in seinen ersten Band "Gedichte" aufgenommen hat. Es ist wahrscheinlich im Oktober 1911 entstanden.

Das Gedicht "Hölderlin" datierte Trakl mit 1911. Welche von beiden Fassungen die erste war, lässt sich laut Weichselbaum nicht mit Sicherheit feststellen. Dass Trakl einmal begonnene Texte in abgewandelter Form mehrfach verwendet habe, sei bekannt. In der zweiten Strophe nimmt Trakl direkt Bezug auf den deutschen Lyriker Friedrich Hölderlin (1770-1843), er weist auf dessen edles Haupt hin, das von "Wahnsinnn" (Trakl schrieb das Wort mit drei 'n', wohl eine Verschreibung) verdüstert worden sei.

Die Bedeutung Hölderlins für Trakl sei in der Forschung ausführlich hervorgehoben worden, erläuterte Weichselbaum. "Er hat ihn als Bruder angesprochen und machte ihn zu einer Leitfigur seiner poetischen Welt. Hölderlin ist mit dem Saitenspiel, dem sanften Wahnsinn und dem Heiligen seines Wesens in seinen Gedichten gegenwärtig."

Das jetzt aufgefundene Gedicht bestätige die Bedeutung Hölderlins für den Dichter aus Salzburg. Neben "An Novalis" sei es das zweite Widmungsgedicht, das die geistigen Traditionslinien, in denen sich Trakl gesehen habe, deutlich werden lasse. Dass sich das Präsidium der Salzburger Kulturvereinigung bereit erklärt habe, dieses einzigartige Dokument zu erwerben, stelle eine wertvolle Bereicherung für die Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte im Geburtshaus des Dichters dar, betonte Weichselbaum.

Über den Kaufpreis sei Stillschweigen vereinbart worden, hieß es am Montag auf APA-Anfrage seitens der Salzburger Kulturvereinigung. Es wurde darauf hingewiesen, dass Johann Holzer vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv von einem "Sensationsfund ersten Ranges" gesprochen habe. Bei der Hölderlin-Ausgabe handelt es sich übrigens um den dritten Band der Gesammelten Werke Friedrich Hölderlins, herausgegeben von Wilhelm Böhm im Verlag Eugen Diederichs, mit Dramen und Übersetzungen Hölderlins: Empedokles, Ödipus und Antigonae. Diese Ausgabe mit dem Trakl-Gedicht hat die Salzburger Kulturvereinigung erworben, bevor der Fund auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse Ende Jänner angeboten wurde. (APA, 15.2.2016)