Die britische Presse hat immer ein Janusgesicht gezeigt: Qualitätsmedien wie die Financial Times, Guardian, Times und der Economist gehörten zu den besten der Welt; während die Massenblätter wie Daily Express, Daily Mail, Sun oft mit ihren chauvinistischen und vulgären Schlagzeilen als Gift spritzende Mittel der Verdummung wirkten. Dieser Gegensatz prägte die Berichterstattung zum Beispiel 1975, als der Labour-Premier Harold Wilson bei dem Referendum über die EU-Mitgliedschaft für ein Ja kämpfte, und auch 1979, als Margaret Thatcher für eine Senkung des britischen Beitrags mit den Partnern gestritten hat.

Ein ähnliches Bild bieten die Zeitungen in London dieser Tage am Vorabend des entscheidenden EU-Gipfeltreffens über die Bedingungen des Verbleibs Großbritanniens in der EU. Der sogenannte Brexit, der Rückzug aus der EU per Referendum, wahrscheinlich am 23. Juni, wäre ein politisches Desaster mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen für beide Seiten, für die EU, aber auch für das Vereinigte Königreich. Es ist merkwürdig, wie wenig Angst der Fall eines britischen Neins in den meisten EU-Staaten auslöst, verglichen mit den dramatischen Untergangsszenarien in den Medien an die Wand gemalt für den Fall eines Grexit. Der griechische Anteil beträgt bloß 1,3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt der EU, während Großbritannien mit 15 Prozent nach Deutschland die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der EU ist. Dazu kommen noch solche weltpolitischen Faktoren wie die britische Nuklearmacht und die ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat.

Das aus wahltaktischen Überlegungen begonnene Pokerspiel David Camerons seit Anfang 2013 um ein versprochenes EU-Referendum trug möglicherweise zu seinem überraschenden Wahlsieg im Mai 2015 bei. Doch scheint es jetzt, als ob der mit allen Wassern gewaschene Zauberlehrling Cameron die Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Es geht nicht mehr um die Scheinverhandlungen mit den EU-Spitzenpolitikern, die Cameron diese Woche wahrscheinlich als einen Sieger aussehen lassen, sondern darum, ob die Briten im Allgemeinen und die Parteigänger Camerons im Besonderen überzeugt werden, um für ein "Bleiben" zu stimmen.

Die letzte Umfrage in der Sonntagausgabe von Independent ergibt, dass die Hälfte der Briten mit Camerons Verhandlungsergebnis unzufrieden ist und dass seine Beliebtheit in den letzten drei Monaten um sieben Punkte auf 31 Prozent gefallen ist. Noch gefährlicher ist für den Premier die Stimmung in seiner eigenen Partei. Vier Kabinettsmitglieder und zwanzig Minister und Staatssekretäre werden laut Medienberichten demnächst öffentlich für einen Austritt bei der Volksabstimmung eintreten.

Der Kolumnist des Observer, Andrew Rawnsley, warnt Cameron, dass nur die Unterstützung der Labour-Anhänger, also der Opposition, ihn bei der größten Herausforderung seiner Karriere retten könnte. Als langjähriger Financial Times-Korrespondent (1960-82), auch mit familiären Verbindungen, kann ich bestätigen, dass die europäische Einigung, abgesehen von einer dünnen Schicht von Intellektuellen und Künstlern, nie eine Herzensangelegenheit für die Briten gewesen ist. (Paul Lendvai, 15.2.2016)