Ein Grabstein am Uferweg der Gusen. Darauf steht: "Zum Gedenken dem hier begr. KZ-Häftling, erschossen am Tag nach der Befreiung".

Foto: Bernhard Mühleder

Mai 1945. Nach der Befreiung des Mauthausener Nebenlagers Gusen irren ausgemergelte und völlig erschöpfte Häftlinge, leicht zu erkennen an gestreifter Uniform und skelettartiger Auszehrung, durch die Felder rund um Sankt Georgen an der Gusen. Sie suchen Schutz bei den umliegenden Bauernhöfen, bitten um Essen. Viele Türen bleiben verschlossen, andere Bäuerinnen und Bauern zeigen Barmherzigkeit und reichen Suppe und Kartoffeln. Tragischerweise werden etliche der Befreiten gerade daran sterben, weil ihr Körper mit der ungewohnten Nahrung nach langer Entbehrung nicht mehr fertig wird.

Im Lager Gusen, einer der betriebswirtschaftlichen Dependancen des KZ Mauthausen, wurden Kriegsgefangene aus vielen europäischen Ländern, Spanier, Slowenen, Tschechen, Belgier, Franzosen, Italiener, Polen, Russen, Ungarn, aber auch Juden und andere verfolgte Gruppen systematisch durch Schwerstarbeit zu Tode geschunden, vorwiegend im Steinbruch und im viele Kilometer langen Stollenbau "Bergkristall", wo das deutsche Jagdflugzeug Messerschmitt 262 gefertigt wurde, sowie im Bahn-, Hafen- und Straßenbau.

Es sind Straßen, die wir heute noch befahren. Bahnlinien, die noch in Betrieb sind. Nur die Me 262 fliegt nicht mehr. Durch das Prinzip "Vernichtung durch Arbeit" war im Lager Gusen bis auf eine improvisierte Vergasungsbaracke keine Gaskammer vonnöten, dafür ein umso größeres Krematorium mit mehreren Brennöfen. Die Durchschnittsverweildauer eines Gusener Gefangenen zwischen Eintritt und Tod betrug wenige Wochen. Die Zahl der in Gusen Ermordeten beläuft sich auf mindestens 37.000, nach neueren polnischen Forschungen 43.000 Personen, davon 28.000 Polen. Die tatsächliche Todesziffer wird wohl nie zu ermitteln sein.

Nur ein Grab

Diese vielen tausend Toten haben kein Grab. Ihre Asche wurde in die Gusen gekippt und auf den Feldern als Dünger verstreut, weswegen der Verband Schwarzes Kreuz, der der Kriegsopfer gedenkt, sie zur St. Georgener Allerheiligenfeier mit keinem Wort erwähnt. Genauso wenig, wie sich für sie auf dem dortigen Friedhof eine Gedenktafel findet. Tafeln, die an die Ermordeten erinnern, sieht man nur beim Krematorium, der einzigen Stelle, wo die Angehörigen den Tod ihrer Lieben verorten können. Das Krematorium befindet sich am Eingang der Wohnsiedlung, die nach dem Krieg auf den Fundamenten der Häftlingsbaracken errichtet wurde. Viele Kerzen brennen rund um die rostenden Brennöfen, viele Blumen und Kränze werden abgelegt, nicht nur zu Allerheiligen. Auch die Gedenktafeln wurden von den Angehörigen und den wenigen Überlebenden angebracht, nicht von offizieller Seite.

Doch wenigstens ein Grab eines Gusener KZ-Opfers existiert tatsächlich, und das kam so: Am Tag nach der Befreiung, es muss der 6. Mai 1945 gewesen sein, wankt ein Häftling den Uferweg der Gusen entlang, weg vom Lager. Auf der Höhe eines Bauerngehöfts, wo er vermutlich Unterstand suchen wollte, wird er von einem SS-Mann, noch in Bewaffnung und Uniform, erschossen. Der Bauernsohn, damals ein Kind, beobachtet den Vorfall: Gemächlich dahingetrabt sei er, der Schütze, habe, ohne seinen Lauf merklich zu verlangsamen, die Pistole gezogen und abgedrückt. Und gut gezielt. Der Schuss trifft den Häftling direkt über der Nasenwurzel, er ist sofort tot. Der SSler setzt seinen Lauf fort und verschwindet von der Bildfläche. Ob er noch sein gewohntes Lauftraining absolvierte oder schon auf der Flucht war, weiß man nicht.

Ob er den Mann aus verspäteter "Pflichterfüllung" oder aus sportlichen Motiven schoss, wird nie zu klären sein, geschweige denn die Identität des Mörders. Man kann davon ausgehen, dass es ihm jedenfalls auf einen Mord mehr oder weniger nicht mehr ankam. Vielleicht wollte er einen Zeugen beseitigen oder nur die Gegend von der "Landplage" der umherirrenden KZ-Häftlinge befreien. Auch die Identität des Ermordeten bleibt unbekannt. Später, erzählt der Bauer, kamen ein paar andere Häftlinge dazu und betrauerten ihn in einer fremden Sprache. Sie habe nach Polnisch geklungen. Genau weiß er es nicht. Beide, der Mörder und sein Opfer, sind untergetaucht, jeder auf seine Weise, der eine im Zivilleben, der andere in der Erde.

"Erschossen am Tag nach der Befreiung"

Sein Vater, erzählt der Bauer, habe seine Kinder, die das Loch in der Stirn des Mannes anstarrten, weggescheucht und den Erschossenen unter Mithilfe der hinzugekommenen Befreiten an Ort und Stelle begraben. Gebete wurden gesprochen. Später habe er darauf einen Stein setzen und eine Inschrift hineinmeißeln lassen "Zum Gedenken dem hier begr. KZ-Häftling, erschossen am Tag nach der Befreiung". Das Grab befindet sich heute noch dort, im Gestrüpp am Uferweg der Gusen. Kein Angehöriger des Toten weiß davon.

Doch vielleicht trägt seine Erwähnung dazu bei, die Erinnerung des Rechtsschutzbeauftragten der Justiz, Gottfried Strasser, an die "Landplage" der befreiten KZ-Häftlinge in Mauthausen und Umgebung ein wenig zurechtzurücken. Am Weltbild der "Aula" wird wohl nicht zu rütteln sein. (Sabine Wallinger, 17.2.2016)