Artilleriefeuer Richtung Syrien: Die USA wie die EU drängten die Türkei, den Beschuss der syrischen Kurden zu stoppen. Denn eigentlich sollte eine Waffenruhe im Kriegsland Syrien gelten.

Foto: AFP / Bülent Kiliç

Wer die Webseite der türkischen Armee konsultiert, sieht nur einen großen leeren Fleck. Und wer Yalçin Akdogan zuhört, einem der türkischen Vizeregierungschefs und bis vor einem Jahr auch noch Unterhändler mit der kurdischen Untergrundarmee PKK, der glaubt, schon das Geräusch der einrollenden Panzer nach Syrien zu vernehmen. Akdogan fordert die Einrichtung einer Pufferzone auf syrischem Gebiet. So widersprüchlich und sprunghaft stellt sich die Türkei dieser Tage der rasch mutierenden Lage im benachbarten Kriegsland Syrien.

Die türkische Armee, traditionell verschlossen, kommuniziert mit der Öffentlichkeit vornehmlich über ihre Webseite. Dort sind auch die täglichen Vorkommnisse an den Landesgrenzen notiert, die Zahl der beschlagnahmten Zigaretten oder Tiere etwa, die einzuschmuggeln versucht wurden. Nur der Artilleriebeschuss über die Grenze hinweg nach Syrien fehlt dieses Mal. Die Seite ist leer.

Großes Kaliber

Fünf Tage bisher, seit vergangenen Samstag, feuert die türkische Armee dabei mit großem Kaliber auf Stellungen der syrischen Kurdenmiliz YPG. "Genau gemäß unseren Einsatzregeln", erläuterte ein türkischer Regierungsvertreter vor Journalisten in Istanbul diese Woche. Die Einsatzregeln besagen, dass die Armee Feuer erwidert, das von jenseits der Grenze kommt. Doch Belege für diesen fortwährenden Beschuss aus Syrien hat die türkische Armee bisher nicht vorgelegt.

Und so bleibt das Artilleriefeuer der Armee vorderhand eben das: ein militärischer Angriff der Türkei auf den Nachbarn Syrien. So sahen es auch alle 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats in New York, die am Dienstag auf Antrag Russlands und des syrischen Regimes zusammenkamen. Sie forderten die Türkei auf, internationales Recht zu respektieren und das Artilleriefeuer einzustellen. Um eine gemeinsame Abmahnung durch die Sicherheitsratmitglieder kam die konservativ-islamische Regierung in Ankara her um. Die diplomatische Niederlage der Türkei wollten die Nato-Partner USA, Frankreich und Großbritannien nicht noch schlimmer machen.

Taube Ohren

Die Botschaft schien nicht anzukommen: Auch am Mittwoch meldete die staatliche Nachrichtengantur Anadolu Artilleriebeschuss auf die YPG. Abfinden will sich Ankara mit der neuen militärischen Situation an der Grenze keinesfalls. Die kurdischen "Selbstverteidigungskräfte" (YPG) sind dabei, jenen Korridor zu erobern, der ihnen noch fehlt, um ihre Gebiete entlang der türkisch-syrischen Grenze zusammenzufügen. Ein Schreckbild für Ankara. Vor einer Woche gelang der YPG die Einnahme von Menagh, einer ehemaligen Flugbasis der syrischen Armee; und anschließend die Eroberung der Städtchen Tel Rifat und Mare. Sie alle waren bisher von islamistischen Rebellen kontrolliert – von Al-Nusra, das sich als Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida versteht, und von Ahrar al-Sham, einer Rebellengruppe, die von Ankara unterstützt wird. Die Kleinstadt Azaz vor der Grenze zur Türkei ist das nächste Ziel der Kurden. Ankara will dies verhindern.

"Wir werden die Einnahme von Azaz nicht erlauben", verkündete der türkische Premier Ahmet Davutoglu und schien sich damit selbst zu überführen: Das türkische Artilleriefeuer nach Syrien sollte in Wahrheit den Vormarsch der Kurden stoppen. Denn die Stadt Azaz ebenso wie die Flugbasis Menagh sind für die Türkei strategisch wichtig: Hier läuft die einzige noch offene Route durch, auf der Ankara Rebellen versorgt und indirekt Einfluss auf das Kriegsgeschehen im Norden Syriens nimmt. Der Korridor zwischen Azaz und Jarablus ist zudem die letzte Bastion gegen die syrischen Kurden der Partei PYD_und deren militärischen Arm YPG. Und über Azaz ließ sich – bisher – der Zugang zur zweitgrößten syrischen Stadt Aleppo, nur 60 Kilometer weit von der türkischen Grenze, kontrollieren. All das droht die Türkei nun zu verlieren.

Die Regierung sucht deshalb fieberhaft nach Optionen. Die Bombardierung und Zerstörung von Menagh scheint denkbar, ein beschränkter Vorstoß mit Panzern nach Azaz, eine militärische Präsenz bei den neuen Flüchtlingslagern auf der syrischen Seite des Grenzübergangs Önçüpinar, eine Pufferzone, zehn Kilometer tief – oder gleich der Beginn eines Bodenkriegs.

Gegen Russland und USA

"Wir wollen eine Bodenoperation zusammen mit unseren Verbündeten", sagte der türkische Regierungsvertreter, schloss aber einen Alleingang seines Landes aus. Ziel einer solchen Bodenoperation sei, alle "Terrororganisationen" zu beseitigen: den "Islamischen Staat" (IS), das syrische Regime, aber auch die PYD der Kurden. Das scheint allerdings schwierig: Die Kurden werden im Kampf gegen den IS von den USA_wie von Russland unterstützt und, wie sich nun wieder zeigt, vom Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad toleriert. (Markus Bernath aus Istanbul, 17.2.2016)