In Österreich sitzen viel zu viele Menschen im Maßnahmenvollzug. Die Ursache: mangelnde forensische Kompetenz bei der psychiatrischen Begutachtung.

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Wäre das Leben wie im Tatort, wären Straftaten in 90 Minuten gelöst. Gut ist gut und böse ist böse, Grautöne würden die Handlung stören. Die Realität sieht indes anders aus. Die Komplexität einer Straftat breitet sich oft erst vor dem Gericht aus. Täter sollen verurteilt und weggesperrt werden, fordern die Angehörigen der Opfer.

Zum Beispiel für den Amokfahrer von Graz, der im Juni 2015 durch die Innenstadt raste. Drei Menschen starben, darunter ein vierjähriger Bub, dutzende Menschen wurden schwer verletzt. Der Täter Alen R. ließ sich nach der todbringenden Fahrt festnehmen. Bei der Vernehmung gab er zu Protokoll, dass er sich damals verfolgt gefühlt habe, am 20. Juni "besonders intensiv". Er habe "aus Angst um sein Leben gehandelt". Zeugen sagen, Alen R. habe gezielt Menschen überfahren.

Schuldfähigkeit als Basis

Im österreichischen Strafrecht richtet sich die Bemessung der Art und Höhe einer Strafe nach dem Schuldprinzip "nulla poena sine culpa". Bestraft wird nur, wer zum Tatzeitpunkt schuldfähig war. Zurechnungsfähigkeit ist der Fachbegriff. Wer zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage ist, das Unrecht seiner Tat zu erkennen, und sein Handeln insofern nicht steuern kann, wird im Nachhinein durch ein Gericht auch nicht verurteilt werden können.

Das ist in § 11 Strafgesetzbuch so geregelt, Geisteskrankheit, geistige Behinderung, tiefgreifende Bewusstseinsstörungen oder seelische Störungen sind mögliche Ursachen. Im Fall des Grazer Amokläufers wurden Gutachter bestellt. Der Grazer Psychiater Peter Hofmann, vom Staatsanwalt beauftragt, kam zur Erkenntnis, Alen R. sei zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig gewesen. Sein vom Richter beauftragter Kollege Manfred Walzl kam zum gegenteiligen Schluss: Alen R. sei zum Tatzeitpunkt nicht zurechnungsfähig gewesen.

Für den Richter, die Angehörigen und die Gesellschaft eine unerträgliche Situation. Wie kommt es zu dieser gänzlich unterschiedlichen Einschätzung? Vielleicht liegt es am Neurologen Walzl, der letztes Jahr durch eine parlamentarische Anfrage der Neos ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, weil der voll im Berufsleben stehende Arzt im Laufe eines Jahres 365 psychiatrische Gutachten erstellt hatte und sich bei dieser Anzahl, die Frage der Sorgfalt aufdrängte.

Macht der Maßnahme

Weil Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht nur für den Täter selbst, sondern vor allem auch für Opfer und Öffentlichkeit eine zentrale Frage ist. Wer als zurechnungsfähig eingestuft wird, muss ins Gefängnis. Wer indes nicht schuldfähig, aber gefährlich ist, wird in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen – von dort würde man theoretisch bei Ungefährlichkeit nach einem Jahr auch wieder entlassen werden.

Deshalb gibt es das juristische Instrument des Maßnahmenvollzugs. Attestiert ein Gutachter einem Delinquenten neben Zurechnungsunfähigkeit eine weiter bestehende Gefährlichkeit, kann das Gericht eine "mit Freiheitsentzug verbundene vorbeugende Maßnahme (§ 21, 22, 23 StGB) verhängen". Das geht auch bei Zurechnungsfähigkeit, wenn die Tat aus "geistiger und seelischer Abartigkeit höheren Grades" verübt wurde.

Rund 9000 Menschen sind in Österreich derzeit in Haft, circa 900 von ihnen wurden von Experten als "geistig abnorme Rechtsbrecher" eingestuft. "Viel zu viele", sagt Patrick Frottier, forensischer Psychiater und von 2002 bis 2009 ärztlicher und therapeutischer Leiter der Justizanstalt Mittersteig, in der geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht sind.

"In Österreich fehlt eine Qualitätssicherung im forensisch-psychiatrischen Bereich, deshalb gibt es viele unkorrekte Entscheidungen", ist Frottier überzeugt. Georg Kathrein, Leiter der Sektion Zivilrecht im Justizministerium, pflichtet ihm bei. "Wir haben ganz sicher viel zu viele Menschen im Maßnahmenvollzug, die dort nicht hingehören", sagt Kathrein und verweist auf ein aktuelles Reformprojekt, das man im Laufe des ersten Halbjahres 2016 präsentieren wolle.

Es ist eine Monsteraufgabe, aus einer Reihe von Gründen. Erstens: Das Thema ist, politisch betrachtet, unpopulär, weil es um Rechtsbrecher geht, und da hat die Bevölkerung wenig Geduld, wenn es um Grautöne geht. Wer einen Mord begeht, kann psychisch normal, sozial auffällig oder psychisch krank sein. Die Schwierigkeit besteht darin, psychische Erkrankung und Straftat voneinander zu trennen. "Die psychische Krankheit muss einer Straftat nicht unbedingt zugrunde liegen, dies ist eher die Ausnahme", sagt Psychiater Frottier.

Lehrstuhl fehlt

Zweitens: Es geht um die Kompetenz derer, die das einschätzen. "Wir brauchten einen Lehrstuhl für forensische Psychiatrie in Österreich, damit würde man viele Probleme lösen", sagt die Psychiaterin Gabriele Fischer von der Medizinischen Universität Wien und kritisiert, dass mitunter auch viel zu wenige spezialisierte Psychiater mit Gutachten betraut werden.

Damit verbunden ist oft der Vorwurf der "Freunderlwirtschaft", der dritte Kritikpunkt im Streit um psychiatrische Sachverständige. Vonseiten des Systems gebe es wenige Mängel, meint Sektionschef Kathrein. Der Hauptverband der Sachverständigen führt eine Liste mit verfügbaren Ärzten, die Justiz stellt ebenfalls eine Gerichtssachverständigenliste bereit.

Richter sind unabhängig und müssen frei wählen können, zudem zeige die laufend aktualisierte Liste sogar die Auslastung der Sachverständigen, sagt Kathrein. Man könne keinem Richter vorwerfen, dass er im Sinne eines zügigen Verfahrens jene Experten beauftragt, mit denen er gute Erfahrungen hat. Alexander Schmidt, Syndikus im Hauptverband der Gerichtssachverständigen, sieht das ähnlich: "Sachverständige haben vor jedem neuen Fall die gesetzliche Pflicht, ihre Sachkunde zu attestieren" , sagt er, und es gebe immer wieder Richter, die in der Fachgruppe Medizin anrufen, weil sie für bestimmte Fälle Experten suchen. Beschwerden würden ans Gericht weitergeleitet, dort finden fünfjährliche Rezertifizierungen statt.

Im Justizministerium sehe man keine Anzeichen von Kartellbildung unter Sachverständigen, sagt Kathrein. Für Frottier ist das kein ausreichendes Argument, denn: Wie sollten Richter die Qualität von Psychiatern beurteilen können, meint er.

Der viel größere Knackpunkt ist die Entlohnung. Dass 195,40 Euro pauschal für ein psychiatrisches Gutachten, egal wie aufwendig, zu wenig ist, steht eigentlich nicht zur Debatte. "Wir wollten die Honorierung für die psychiatrischen Gutachten erhöhen und einen Stundentarif einführen", sagt Kathrein, sei dabei aber auf Widerstand der Ärztekammer gestoßen.

Schlechte Honorierung

"Wir fordern, dass Ärzte, so wie alle anderen Berufsgruppen auch, jenes Honorar bekommen, das sie im außergerichtlichen Erwerbsleben erzielen", sagt Johannes Zahrl, Kammeramtsdirektor der Österreichischen Ärztekammer. "Das können wir uns aufgrund budgetärer Restriktionen nicht leisten", kontert Kathrein, zumal die Ärztekammer nicht nur eine Erhöhung für die Psychiater, sondern gleich für alle Mediziner durchsetzen will.

"Das würde sonst dem Gleichheitsprinzip widersprechen" , rechtfertigt Zahrl die Strategie. Ein Angebot des Ministeriums hat die Ärztekammer ausgeschlagen. "Das, was die Ärzte fordern, würde jeden Budgetrahmen sprengen", sagt Kathrein.

Bleibt der letzte Vorwurf: jener der Qualitätssicherung, der fünfjährlichen Rezertifizierung, die durch die Gerichtshofpräsidenten der Länder durchgeführt wird. "Die Ärztekammer würde hier ihre Expertise anbieten", sagt Zahrl und setzt auf neue Verhandlungen.

Die Missstände bei Gutachten sind dem Bundesministerium für Justiz seit 2011 bekannt. Eine Qualitätsanalyse österreichischer Gutachter zur Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeitsprognose, die sogenannte Ulmer Studie, hat schon 2011 ergeben, dass psychiatrische Gutachten in Österreich "viele Mängel bezüglich Begutachtungsdauer, Aufklärung des Probanden, Präzision der Diagnostik und Transparenz" aufweisen.

Bemängelt wurde auch, dass psychiatrische Gutachter zwischen empirischen Tatsachen und subjektiven Schlussfolgerungen nicht differenzieren, sich zirkelschlussartiger Argumentationsketten bedienen und sich auf den "gesunden Menschenverstand" berufen. Argumente seien widersprüchlich, unpräzise und moralisierend. Zwischen 2010 und 2014 ist, laut Justizministerium, dennoch nur einem einzigen Mediziner im Fachgebiet Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin die Zertifizierung entzogen worden.

Ritualmord in Salzburg

"Wenn es um die Einschätzung der Gefährlichkeit geht, ist die klinische Erfahrung mit Delinquenten entscheidend", sagt Frottier. Die Herausforderung sei, die psychische Störung von der Straftat zu entkoppeln. Wie schwierig das sein kann, lässt sich an einem Fall in Salzburg demonstrieren. 2014 hatte ein 21-jähriger Saalfeldner seine Exfreundin mit 50 Messerstichen getötet und Teile der Leiche aufgegessen. In der Verhandlung im August 2015 sprach er von "inneren Stimmen", die diesen Mord von ihm verlangten. Er gab zu, die Tat geplant zu haben, weil er diesen Stimmen gehorchte.

Normalerweise würde das auf eine schizophrene Störung hinweisen. Doch unmittelbar nach dem Verbrechen war der Mann vom Neuro-Psychiater Ernst Griebnitz beurteilt worden, der keinerlei solche Anzeichen feststellen konnte und auch paranoid-halluzinatorische Züge ausschloss. Der 21-Jährige sei zurechnungsfähig, mit 0,8 Promille zum Tatzeitpunkt leicht alkoholisiert und "hochgradig gefährlich" gewesen.

Doch die Verteidigung hatte ein Privatgutachten des Psychiaters und Neurologen Reinhard Haller beauftragt, der den Mann als psychisch schwer krank und deshalb zurechnungsunfähig einstufte. Hat der Angeklagte also tatsächlich innere Stimmen gehört, oder täuscht er es nur vor, um sein Strafmaß zu mindern, wurde zur zentralen Frage.

Wenn Gutachten widersprüchlich sind

"Die Psychiatrie ist eine exakte Wissenschaft", betont Psychiater Frottier. Die Crux sei: Menschen mit und ohne psychische Störungen begehen Straftaten. Nicht jede Straftat stehe mit einer psychischen Störung in Verbindung. Bei Schizophrenie ist die diagnostische Sachlage meist einfach: Dafür gibt es klare diagnostische Kriterien (etwa eine Denkstörung), und wenn ein Delinquent diesen entspricht, ist er schizophren.

Einer der beiden Gutachter im Salzburger Fall liegt also hier ohne Zweifel falsch. Inwieweit aber die Erkrankung auch eindeutige Ursache der Straftat ist und daraus erhöhte Gefährlichkeit abgeleitet werden kann, sollte von einem forensisch erfahrenen Gutachter geklärt werden, es könnte sonst strittig bleiben.

Viel schwieriger sei es mit dissoziativen Störungen, psychotischen Episoden oder anderen vorübergehenden psychischen Beeinträchtigungen. Gutachter müssen erkennen, inwiefern Symptome echt oder eventuell nur vorgetäuscht sind. Gutachter müssen den zeitlichen Verlauf von psychischen Krankheiten kennen, müssen Tatzeitpunkt und Jetztzustand unterscheiden, um dann die alles entscheidende Frage der Gefährlichkeit beurteilen zu können. Und: Gutachter müssen sich darüber im Klaren sein, dass medizinische Fachsprache und juristische Terminologie keineswegs deckungsgleich sind.

Im Zweifel pro "Maßnahme"

Warum so viele Menschen im Maßnahmenvollzug sitzen, habe eine einzige Ursache: "Im Zweifel entscheiden sich Gutachter für den Maßnahmenvollzug, denn würde ein als ungefährlich eingestufter Straftäter rückfällig, könnten daraus ja auch Haftungsfragen entstehen", sagt Frottier, Gutachter würden dann vom Gericht kaum mehr bestellt werden.

Noch ein dritter Fall hat kürzlich das Dilemma der psychiatrischen Gutachterkompetenz deutlich gemacht. Im Verfahren gegen jenen Mann, der im April 2014 eine Wohnung am Hohen Markt in Wien anzündete und damit seine Nachbarin, eine junge Frau, zu Tode brachte, standen zwei juristische und zwei psychiatrische Meinungen gegeneinander. Zuerst wurde der Mann nur wegen Brandstiftung angeklagt.

Für die Eltern der jungen Frau war das unerträglich. Dann wurde er auch des Mordes und 15-fachen Mordversuchs bezichtigt. Der neurologische Sachverständige bescheinigte dem Mann zuerst zwar eine psychische Störung, aber keine erhöhte Gefährlichkeit. In der Verhandlung widersprach er sich dann selbst und attestierte ihm sowohl geistige Abnormität als auch hohe Gefährlichkeit. Ein wegen des Widerspruchs bestellter zweiter psychiatrischer Gutachter meinte, es bestehe weder geistige Abnormität noch erhöhte Gefährlichkeit. Dieser Widerspruch ist nicht nachvollziehbar und widerspricht der Rechtsstaatlichkeit.

Mehr forensisch-psychiatrische Fachkompetenz und Qualitätssicherung bei Gutachtern wären eine Lösung, die im Zuge der anstehenden Reformen neu diskutiert werden könnte. Sektionschef Kathrein hofft auf eine finanzielle Einigung mit der Ärztekammer, Frottier "auf eine vernünftige Lösung eines seit Jahrzehnten allgemein bekannten Missstandes".